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Ausgabe:

1904 Nr. 6

Spalte:

179-181

Autor/Hrsg.:

Glaser, Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Franziskanische Bewegung 1904

Rezensent:

Lempp, Eduard

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179 Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 6. 180

Nachweis berückfichtigt, daß ihr in Gallien noch im 5. Jahrhundert
durch die Paulusakten Konkurrenz gemacht wurde
(TU NF IV 3 b). Von hier aus fällt auch ein andres
Licht auf die Frage, ob nicht die apokryphe Korinther-
korrefpondenz (b. Ephraem) und die Theklaakten (b. Rab-
bulas) auf eine ältere Überfetzung der ganzen Paulusakten
zurückgehen.1) Die Exiftenz eines 2. apokr. Philipperbriefes,
wozu das Material übrigens fchon Clemen, Einheitlichkeit
der paul. Briefe 133fr. zufammengeflellt hat, erfcheint doch
fehr problematifch. Merkwürdigerweife übergeht B. ganz
die F"rage der Clemensbriefe, die durch den Codex Cambr.
Univ. add. 1700 (v.J. 1170) geftellt wird und auch in der
Diodordebatte eine Rolle fpielt. Harnacks Diodorhypo-
thefe will B. in einem eigenen Anhang vom kanonsge-
fchichtlichen Standpunkt aus widerlegen: es handelt fich,
da die 3 angeblichen Anfpielungen auf die Apoc. gar
nichts beweifendes haben, nur um das ausdrückliche Zitat
des II. Petrusbriefes in quaest. 94 (105); dies würde nicht
nur gegen Diodor, fondern ebenfo gegen jeden Antio-
chener fprechen. Die Einordnung der pf.-juftinifchen
Quaestiones in die Schriften der antiochenifchen Schule
iß aber auch von denen anerkannt, die Harnacks Diodor-
hypothefe ablehnen, z. B. Jülicher Th. Ltztg. 1902, 82—86.
Man wird alfo mit der Möglichkeit eines folchen Zitates
bei einem Antiochener oder aber einer Interpolation in
dem ja nicht einheitlich überlieferten Texte rechnen muffen.
Ebenfo konnte der von mir im Amer. Journal of Theol.
II 2, 1898, 353—387 publizierte Prolog zu einem Kommentar
über AG herangezogen werden, gleichviel ob meine
Zuweifung an Theodor. Mopf. anerkannt wird oder nicht;
vgl. Th. Ltztg. 1899, 43fg. Uber die Reihenfolge der
paul. Briefe (S. 27) gibt Gregory, Textkritik 857fg. genauere
Auskunft: nur KL haben mit D Heb nach Phm,
P mit NB AC H u. a. vor Tim. Merkwürdig ift, daß auch
einige Hdfchrr. des Theophylaktkommentars (von Soden
I 28t, 699) Heb zu den großen Briefen (teilen; ob hier
ein Zufammenhang mit fynfchen Kommentatoren befieht?
B. geht gar nicht auf Bibelhandfchriften ein: bei B. F.
Weftcott, General survey of the history of the Canon of
the NT6 (236tf. über die Syrer) 244 no. 3 findet man eine
intereffante Zufammenftellung über Hdfchrr. des Britifh-
Mufeum, die zwar einer etwas fpätern Zeit angehören,
aber doch auf ältere Vorlagen zurückgehen; vgl. auch
Gregory, Textkritik 518 ff. Die Identität des Verf. der
Apoft. Konft. und des Interpolators der Ignatianen (neuerdings
von Hilgenfeld beftritten) haben übrigens fchon vor
F. X. Funk (1880) Uffher und Lagarde behauptet und nach
ihm Harnack TU II 1/2, 1884, 241—268 ausführlich be-
wiefen. Über die geläufigen Zufammenftellungen von Ge-
betserhörungen (S. 45) vgl. Michel, Gebet und Bild S3fg.

Sehr dankenswert find die ftatiftifchen Zufammenftellungen
über den Schriftgebrauch der einzelnen Theologen
; vollen Wert haben folche freilich nur, wenn fie
auf vollftändiger Induktion beruhen, und dazu wäre gerade
eine folche Monographie der rechte Ort. Aber das foll
unfere Anerkennung des Gebotenen nicht fchmälern. Bauer
hat manches noch Dunkele aufgehellt, manche falfche Anficht
berichtigt. Dafür gebührt ihm unfer Dank.

Jena. von Dobfchütz.

Glaser, Dr. Friedrich, Die Franziskanische Bewegung. Ein

Beitrag zur Gefchichte fozialer Reformideen im Mittelalter
. (Münchener volkswirtfchaftliche Studien, herausgegeben
von Lujo Brentano und Walther Lötz.
Neunundfünfzigftes Stück.) Stuttgart 1903, J. G. Cotta-
fche Buchhandlung. (X, 166 S. gr. 8.) M. 4.—

Es ift immer lehrreich, wenn auch Nichttheologen
auf theologifchem Gebiete fich betätigen, und fo be-

!) Inzwifchen hat allerdings C. Schmidt, Acta Pauli 1904, 125 ff.
145 fr. durch den Nachweis, daß die Auslöfung beider Stücke aus dem

grüßen wir es mit Freude, daß hier ein Doktor der
Staatswirtfchaft in der gegenwärtig von theologifcher
Seite foviel verhandelten Frage der franziskanifchen Bewegung
das Wort genommen hat. Er betrachtet die
franziskanifche Bewegung nach ihrer fozialen Seite und
will den Nachweis erbringen, daß diefe Bewegung nur ein
befonders hervortretendes und lehrreiches Glied in dem
durch die ganze Gefchichte des Chriftentums durchgehenden
Kampf zwifchen den weltflüchtigen und kulturfeindlichen
Lehren der Evangelien und der übermächtigen
Weltentwicklung war.

Nach einem kurzen Rückblick auf die Anfänge des
Chriftentums, die beginnende Verweltlichung und das
Mönchtum wird die Anbahnung der franziskanifchen
Reformbewegung gefchildert. Ich darf mit Hinweis auf
meinen gleichlautenden Auffatz in den Theologifchen
Studien aus Württemberg 1889 X, 223—284 dabei vielleicht
ausfprechen, daß ein Hinweis auf die Cluniacenfer
Reform und ihre Folgen die Reaktion noch deutlicher
gemacht hätte, welche zur franziskanifchenBewegung führte.
Dann wiid der franziskanifche Reformgedanke nach
feiner fozialen Seite und die Stellung der Kirche zu ihm
entwickelt, endlich werden die Verfuche der Apoftel-
brüder, der Spiritualen, der Fratricellen und Beghinen
befchrieben, die darauf ausgingen, die Gefellfchaft nach
jenen Ideen zu organifieren, und zuletzt die Unterdrückung
diefer Verfuche durch die Kirche gefchildert.

G. geht davon aus, daß das von Jefus befonders
Matth. 19, 21 und Parall. aufgeftellte Vollkommenheitsideal
fchon in der erften Chriftenheit kommuniftifche und
kulturfeindliche Anfchauungen erzeugt habe, die von der
Kirche in der Zeit ihres Kampfes mit der Welt offiziell angenommen
und durchs ganze Mittelalter theoretifch beibehalten
wurden, während doch durch den Lauf der Gefchichte
der Kirche umfaffende Kuliuraufgaben zugefallen feien,
die fie nur auf Grund der Weltbeherrfchung, nicht der
Weltentfagung habe löfen können. Obgleich darum die
Gedanken, die Franz und feine wirklichen Nachfolger vertraten
, nichts anderes als die tatfächlichen Gedanken der
Evangelien und die offiziellen Anfchauungen der Kirche
gewt fen feien, habe die Kirche doch vom höheren Standpunkt
ihrer Kulturaufgaben aus vollkommen recht gehabt
, jene in fich unmöglichen und kulturfeindlichen Verfuche
mit Üoerredung und, als es nicht anders ging,
auch mit Gewalt zu unterdrücken.

Als Theologe möchte ich einige Einwände mir erlauben
: Vor allem ift die Frage der Kulturfeindlichkeit
und Weltflüchtigkeit der Evangelien, minoritifch ge-
fprochen die Frage der Armut Chrifti, wirklich nicht fo
einfach zu beantworten, wie G. meint. Acta 4,32 ift doch
nicht der einzige und alles beweifende Kommentar der
Anfchauungen Jefu, fondern die ziemlich andersartigen
Anweifungen des Paulus find auch in Betracht zu ziehen.
Anderfeits handelt es fich freilich um ein Werturteil,
wenn man fragt, ob die Kulturaufgaben, die der Kirche
des Mittelalters zugefallen find, wirklich die höheren find
gegenüber den rehgiöfen Aufgaben, die fie darüber ver-
nachlalfigte, namentlich ob ihr als Trägerin der Weltkultur
in der Tat das moralifche Recht zugebilligt werden
foll, kulturfeindliche Reformverfuche, die fie überdies
als mit ihren eigenen Theorien übereinftimmend anerkennen
muß:e, auch mit Gewalt und zwar mit welcher
Graufamkeit! zu unterdrücken. Jedenfalls vermiffe ich
bei G. jede Andeutung davon, wie fehr der welterobernden
Kulturorganifation gegenüber der religiöfe Hinweis
auf ihre Schattenfeiten, die zur Zeit der franziskanifchen
Bewegung gerade an der Leitung der Kirche
ftark hervortraten, doch auch berechtigt war. Ein Lied
wie das von G. S. 124 mitgeteilte von Jakopone da
Todi hat heute noch und heute wieder als Gegengewicht

Ganzen der Paulusakten fchon auf griechifchem Sprachgebiet erfolgt zu
fein fcheint, der oben geäußerten Vermutung die wichtigften Stützen
entzogen.