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Ausgabe:

1903 Nr. 2

Spalte:

41-44

Autor/Hrsg.:

Dobschütz, Ernst von

Titel/Untertitel:

Die urchristlichen Gemeinden 1903

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 2.

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nichts zu entnehmen ift, giebt H. ja felbft zu; aber auch
die Hungersnoth unter Claudius ift, wenn doch Jof., ant.
20, 5, 2, mit Schürer (Gefchichte I, 567,8) und Zahn
(Einleitung II, 634) hott rovrotq gelefen werden mufs,
thatfächlich nicht beftimmt zu datiren — ganz abge-
fehen davon, dafs die damit in Verbindung gebrachte,
aber in kein beftimmtes Verhältnifs gefet/.te Reiie des
Paulus und Barnabas, wie H. gar nicht erwähnt, in Bezug
auf ihre Gefchichtlichkeit den allerftärkften Bedenken
unterliegt. Eher liefse fich ja die Notiz IL Kor. 11, 32 f.
verwerthen, wenn nur feftftünde, in welche Zeit des Lebens
des Paulus fie gehörte, was unter dem Ethnarchen des
Königs Aretes zu verftehen und, falls er der Statthalter
ift, wie und wann Damaskus in arabifchen Befitz übergegangen
ift. H. nimmt unter der angegebenen Voraussetzung
an, dafs die Stadt Caligula dem Aretas fchenkte,
mufs aber, da er das Apoftelconcil zwifchen 50 und 52
datirt und den betr. Vorfall an den Schlufs des zweiten
Aufenthalts des Paulus in Damaskus fetzt, event. doch
noch etwas zurückgehen. Schon das macht aber Schwierigkeiten
, da Tiberius dem Aretas die wichtige Stadt kaum
gefchenkt hätte, und nehmen wir vollends an, wofür
doch manches fpricht, dafs e&vagxrjg vielmehr eine Art
Generalconful bedeutet, fo läfst lieh die Stelle überhaupt
nicht chronologifch verwerthen. M. M. n. ift die
Bekehrung des Paulus nur von dem Tode Jefu aus
zu datiren, über den wieder gegenüber H. Schürer
(Gefchichte I, 444, 35) in Kürze das Richtige angedeutet
hat Ich kann darauf hier nicht näher eingehen
und möchte nur anfuhren, dafs ich, in Abweichung
von meinen früheren Annahmen, die Bekehrung
des Paulus jetzt in das Jahr 31 fetze.

So kann ich die Refultate H.'s vielfach nicht gut-
heifsen, halte aber trotzdem feine Arbeit für fehr ver-
dienftheh. Sie ftellt auf Grund der gefammten Literatur
— die freilich auch manchmal citirt wird, wo fie
nichts zur Sache thut — zufammen, was zur Datirung
des Lebens des Paulus dienen kann. Nun handelt es
fich darum, die feften Punkte herauszufinden und von
ihnen Schritt für Schritt weiter zu kommen.

Halle a. S. Carl Clemen.

Dobschütz, Ernft von, Die urchristlichen Gemeinden. Sitten-
gefchichtliche Bilder. Leipzig 1902, J. C. Hinrichs'fche
Buchhandlung. (XIV, 300 S. gr. 8.) M.6.—; geb.M.7.—

In der Zeit der Monographien und der genauen
Detailunterfuchungen über Specielles und Speciellftes ift
es immer eine Erfrifchung, ein wiffenfehaftliches Buch
zu lefen, das von einer etwas höheren Warte aus geiftige
Ueberfchau hält. Ein folches Buch, das, auf genauefte
wiffenfehaftliche Detailarbeit aufgebaut, doch auch von
Laien mit Freude gelefen werden kann, ift das eben genannte
. Niemand wird in diefem Buch die Akribie und
Gelehrfamkcit vermiffen, die man aus den anderen
Schriften des Verf.s kennt. Aber jeder Lefer, auch der
des Griechifchen Unkundige wird feine Freude an diefer
fchönen und fliefsenden Darftellung haben. Auch der
Drucklegung, den Ueberfchnften und der gefammten
äufseren Geftaltung hat der Verf. eine befondere Sorgfalt
zugewendet. Ein fehr genaues Stellen- und Sachregifter
erleichtert den praktifchen Gebrauch und giebt der fortlaufenden
Darfteilung zugleich den Werth eines Nach-
fchlagebuchs.

Der Verf. hat fich die Aufgabe geftellt, aufzuzeigen,
wie das Chriftenthum auf dem Gebiete des fittlichen
Lebens in den urchriftlichen Gemeinden den Beweis des
Geiftes und der Kraft gebracht und wie es fich auf jüdi-
fchem und heidnifchem Boden als eine das individuelle
und fociale Leben heiligende Macht erwiefen hat. Eines
der tiefften und innerlichften Probleme des Urchriften-
thums ift damit angefafst; denn es handelt fich einfach

um die Frage, wie das Evangelium Jefu Chrifti Wurzel
gefafst hat in den Herzen der Menfchen — foweit man
dies innere Wachsthum überhaupt erkennen kann: an
den Früchten, die es getragen. Hier conftatirt v. D.
nun, ohne das Einzelne zu idealifiren für die Periode,
die er behandelt — etwa bis Mitte des 2. Jahrhunderts —
einen entfehiedenen Fortfehritt, eine Verfeinerung des
chriftlichen Gewiffens in den Gemeinden. Bei aller Anerkennung
für die eigenthümlichen Vorzüge der allererften
Zeit der Liebe, wird doch mit Recht darauf hingewiefen,
dafs in Bezug auf die Durchbildung des chriftlichen Geiftes
in den Gemeinden nichteine Degradation, fondern eine ge-
funde Fortentwickelung ftattgefunden hat. Das günftige
Urtheil in der Apologie des Ariftides und die traurigen
Schattenfeiten, die wir durch Hermas kennen lernen, find
nebeneinander zu berückfichtigen. Das Gefammturtheil
aber mufs ein günftiges fein.

Der Verf. hütet fich jedoch zunächft vor jedem
generellen Urtheil. Ja, er legt allen Werth darauf, die
Schilderung der fittlichen Zuftände nirgends zu generali-
firen. Er vermeidet deshalb auch jede fyftematifche Behandlung
und ftellt felbft auf die Gefahr nicht feltener
Wiederholungen die einzelnen Bilder nach ihrer zeitlichen
und örtlichen Eigenthümlichkeit nebeneinander.
Nur was in näherer gefchichtlicher Beziehung zu einander
fleht, wird zufammen behandelt. Trotzdem geht ein be-
ftimmter geiftiger Grundgedanke durch alle Einzeldarfteilungen
hindurch und es ift trotz der Individualifirung
der einzelnen Bilder dem Verfaffer gelungen, den Eindruck
der Einheitlichkeit hervorzurufen. Weniger glücklich
dagegen fcheint mir der Verf. in feiner generellen
Dispofition des Stoffes. An fich ift ja gegen die Haupt-
überfchriften: I. die paulinifchen Gemeinden, II. die jüdi-
fche Chriftenheit, III. die fpätere Heidenchriftenheit nichts
einzuwenden. Aber es fchädigt doch die Klarheit der
gefchichtlichen Darftellung, dafs das Capitel über die
jüdifche Chriftenheit erft an zweiter Stelle fleht. Diefe
Dispofition würde mir nur dann gerechtfertigt erfcheinen,
wenn der Verf. eine Explication der fittlichen Grundfätze
Jefu vorangeftellt hätte. Da er dies aus begreiflichen
Gründen unterlaffen hat, fo mufsten wenigftens die fittlichen
Anfchauungen in der Urgemeinde, von denen der
Verf. trotz der Dürftigkeit unferer Quellen in Cap. II
Werthvolles zu fagen weifs, zuerft behandelt werden.
Davon durfte die literarifche Priorität der paulinifchen
Briefe ebenfo wenig abhalten, wie der praktifche Zweck,
die vollftändigften Bilder (Korinther, Hermas) an den
Anfang und an den Schlufs zu ftellen. Auch die judaifti-
fche Propaganda gegen Paulus hatte doch im paläftinenfi-
fchen Judenchriftenthum ihren letzten Urfprung und ihre
Charakteriftik kommt im zweiten Capitel etwas post festum.

Doch laffen wir uns durch diefen F'ehler in der Dispofition
nicht ftören. Seinen Ausgangspunkt nimmt der
Verf. bei der fittlichen Unterweifung, wie fie der Apoftel
felbft gegeben hat. Er greift damit freilich manchem
vor, was fpäter ausführlicher behandelt wird, aber er
gewinnt fo eine fichere Grundlage. Mit Recht wird
auch darauf aufmerkfam gemacht, dafs die fittliche
Unterweifung des Apoftels fich an die Formen der
judifchen Profelytenunterweifung angefchloffen hat. Ich
möchte darin fogar weiter gehen, denn ich glaube, dafs
fich in den wichtigften paränetifchen Abfchnitten der
paulinifchen Briefe diefelbe Stoffreihe nachweifen läfst,
wie fie uns in der Grundfchrift der Didache und in der
mätthäifchen Bergpredigt gegeben ift. Nach diefer
Richtung hin bedürfen die Dobfchütz'fchen Ausführungen
einer Ergänzung. Sehr dankenswerthe Materialien dazu
bietet v. D. in feinen Erläuterungen (Nr. 6 zur Terminologie
des Sittlichen). Wichtiger jedoch als diefer An-
fchlufs an die katechetifche Tradition ift der Hinweis
v. D.'s darauf, wie frei Paulus die Macht des chriftlichen
Geiftes in feinen Gemeinden walten läfst und wie mächtig
fein Vertrauen war, dafs der göttliche Geift von felbft

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