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Ausgabe:

1903 Nr. 23

Spalte:

623-626

Autor/Hrsg.:

Holtzmann, Oscar

Titel/Untertitel:

War Jesus Ekstatiker? 1903

Rezensent:

Lobstein, Paul

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623 Theologifche Literaturzeitung. 1903. Nr. 23. 624

Dogma, aufgebaut auf dem Glauben an die Idee und
durchgeführt mit allen Mitteln eines muthvollen Glaubens
an die Idee. Seine Ausführungen find immer da am
fchwächften, wo er daran geht, das, was man fonft als
eminent religiöfe Erfcheinungen betrachtet, gefchichtlich
begreiflich zu machen und ins Profangefchichtliche zu
überfetzen. So verflicht er in einem Anhang, wieder
feftzuftellen, dafs die fogenannten Propheten nur für die
religiöserbauliche Betrachtung Propheten feien, dafs aber
die Gefchichte auch darnach zu fragen habe, was fie im
täglichen Leben und demzufolge in den Augen ihrer
Zeitgenoffen gewefen feien, fo wie z. B. Luther für das
zeitgenöffifche und das reingefchichtliche Auge nicht
zunächft der Reformator, fondern der Profeffor Luther
gewefen fei. Ganz abgefehen davon, dafs im fruchtbaren
Paläftina z. B. ein Johannes der Täufer fleh von dem
wilden Ertrag des Bodens nährte und gewifs einen rein
religiöfen ,Beruf ausübte, fcheint mir diefe Betrachtung
der Heroen des Geiftes nicht einmal profangefchichtlich
den Kern zu treffen und in der Bahn der weiland
materialiftifchen Gefchichtsauffaffung zu laufen. Das
hindert uns freilich nicht, dankbar und vorfichtig die
Gaben Winckler's anzunehmen, der zur Zeit die nam-
haftefte Verbindung von Affyriolog und Altteftamentler
darftellt.

Leonberg. P. Volz.

Holtzmann, Prof. D. Oscar, War Jesus Ekstatiker? Eine
Unterfuchung zum Leben Jefu. Tübingen 1903, J. C. B.
Mohr. (VIII, 143 S. gr. 8.) M. 3.—

Diefe Unterfuchung foll eine Ergänzung zu dem vor
zwei Jahren erfchienenen ,Leben Jefu (1901)' des Verf.'s
liefern. Zur Löfung der von ihm in Angriff genommenen
Frage berührt er in der That eine nicht geringe Zahl der
wefentlichften Probleme, die heute zur Discuffion flehen.
Auch geblattet ihm der Charakter feiner Monographie
nähere Auseinanderfetzungen mit fremden Meinungen,
namentlich auch mit Recenfenten, unter welchen Jülicher
fleh einer befonderen Beachtung rühmen darf. Es fei mir
indeffen erlaubt, die mehr oder weniger peripherifchen
Fragen nicht weiter zu berückfichtigen, und meine Auf-
merkfamkeit auf das in der Titelfrage bezeichnete Hauptproblem
zu concentriren.

Holtzmann's Unterfuchung tritt in fcharfen Gegenfatz
zu einer bereits von Straufs in einem bekannten Ürtheil
feines Lebens Jefu für das deutfehe Volk geäufserten,
neuerdings von Wellhaufen vertretenen Auffaffung, nach
welcher Jefus ,die abgeklärte, in fleh und Gott ruhende
harmonifche Perfönlichkeit' gewefen fei, ,die blofs durch
ihre Selbftentfaltung wirkte', fo dafs er ,das Ewiggültige,
das Menfchlich-Göttliche in dem Brennpunkt feiner Individualität
fammelte, und dem Ausdruck gab, was jede
aufrichtige Seele fühlen mufs'. Somit werde der Ueber-
gang der Ekftafe zur Religiofität, den die Propheten, vor
allem Jeremias, eingeleitet und die Frommen nach ihnen
weiter geführt haben, durch Jefus vollendet; das fchliefse
natürlich nicht aus, dafs fleh bei ihm auch Höhen und
Tiefen der Stimmung finden.

Diefes Urtheil fcheint H. mindeffens fehr einfeitig, und
er wirft am Eingang feiner Unterfuchung die Frage auf:
Harmonie oder Ekftafe? Bei der Formulirung diefes Entweder
-Oder, das er allerdings nicht als unbedingten Gegenfatz
verftanden haben will, erhellt aus feiner Unterfuchung
mit wachfender Klarheit, dafs er jene Wellhaufen'fche Auffaffung
von einer harmonifch in fleh ruhenden und in
der Welt fleh auswirkenden Perfönlichkeit ablehnt. Viel
weniger deutlich ift dagegen das Bild, das er felbft von
dem Innenleben Jefu und von der Form feines Bewufst-
feins entwirft. Es wird ja keinen, der mit den Forfchungen
über das Leben Jefu auch nur ein wenig vertraut ift,
befremden, dafs diefer Verfuch, einen Beitrag zur Pfycho-

logie Jefu zu liefern, den Lefer unbefriedigt läfst; von
vornherein mufste man darauf gefafst fein, da fowohl der
Charakter der Quellen als die Eigenart des Gegenftandes
eine ohne Reff aufgehende Löfung nimmermehr verträgt.
Allein in diefer allgemeinen Stimmung, welche durch die
überwältigende Aufgabe hervorgerufen wird, regt fleh
doch ein befonders durch die vorliegende Unterfuchung
erzeugtes Mifsbehagen. Sehe ich recht, fo flammt das-
felbe in erfter Linie aus der Unbeftimmtheit und Unklarheit
der Frageftellung. Der Verf. operirt mit einem Begriff
,des Ekftatifchen', der ,Ekftafe', den er nirgends auf
einen deutlichen Ausdruck bringt, und deffen Züge man
nur allmählich, meiftens aus zufälligen Aeufserungen, aus
gelegentlichen Anmerkungen zufammentragen mufs. Hat
der Hifloriker feine Auffaffung aus den von ihm gerichteten
Quellen und aus dem mitteilt derfelben gewonnenen
Charakterbild Jefu gewonnen? Oder fchwebte ihm eine
befondere Theorie von dem Wefen der Ekftafe vor, die
er nun in ihrer Anwendung und Verwirklichung bei
der Schilderung der Worte und Thaten Jefu vorfindet
und aufzuweiten unternimmt? Er fcheint beide Wege
betreten zuhaben, ohne aber dem Lefer genügende Winke
über feine eigentliche Pofition zu geben. Oder vielmehr,
erhatesverfäumt,die religionspfychologifche Unterfuchung
anzuflehen, ohne welche in diefer Frage nicht auszukommen
ift.

Es ift dies nicht eine unberechtigte Forderung, die
etwa aus fyftematifchen Intereffen geboren, von dem Hifloriker
einfach ignorirt oder grundfätzlich zurückge-
wiefen werden dürfte. Hat doch Holtzmann felber an
verfchiedenen Orten, dem Zwange feines Gegenftandes
folgend, pfychologifche Beobachtungen und Erwägungen
eingeftreut, aus welchen er die Thatfachen zu beleuchten
und zu beurtheilen fucht. Nur gehen feine Beobachtungen
nicht in die Tiefe und bringen es nirgends zu einem
lebendigen Verftändnifs der gefchilderten Vorgänge.
Verfuchen wir es, die an verfchiedenen Stellen feiner
Schrift vorliegenden Momente zu einem Gefammtbilde zu-
fammen zu fügen. ,'E^iötaoO-ai heifst „aufser fleh kommen",
IxöraOiq bezeichnet einen höchftenGrad geiftiger Erregung,
da über einem Eindruck das fonft gültige Mafs der
Dinge vergeffen ift. . . . Der Ekftatiker ift Werkzeug
eines fremden Geiftes: er handelt, wenn er von dem Geifte
getrieben wird; das zeigt fleh in unvermittelt plötzlichem
oder leidenfehaftlichem Thun; er redet, was ihm von dem
Geifte gefagt oder gezeigt wird; das erkennt man, wenn
feine Rede über feinen fonftigen Anfchauungskreis plötzlich
unvermittelt hinausgreift oder wenn fie von einer
Kraft und Gewalt ift, die feiner natürlichen Art nicht
entfpricht. . . . Ein folches Ueberfpringen aller entgegen-
flehenden Schwierigkeiten durch die Glaubenserwartung
und ein folches Hinausgreifen über die volksthümlich
gegebene Anfchauung ift ohne befondere Schwungkraft
des Geiftes undenkbar. In der unbeabfichtigten, natürlichen
, aber durch äufseren Anlafs hervorgerufenen Be-
thätigung diefer Schwungkraft befteht jede Aeufserung
ekftatifchen Wefens. Es ift der unwillkürliche Rückfchlag
einer ftark erregbaren Einbildungs- und Willenskraft auf
einen gegebenen Eindruck. Bei einer Rede wird fleh die
ekftatifche Eigenart immer fchon im Klang der Worte
kundgethan haben' (S. 3. 14. 62). Aufser diefen jedesmal
nur in Anmerkungen notirten Merkmalen treten noch
einzelne Züge auf, die den gegebenen Andeutungen kaum
zur Bereicherung oder Erläuterung dienen. Bald wird das
Ekftatifche ohne Weiteres mit dem ,Pneumatifchen', ,Be-
geifterten' identificirt (S. 4. 8. 13. 43. 103), bald fcheint
die Gleichung zwifchen ,Ekftatifchem' und ,Schwärmer-
ifchem' vollzogen (S. 6. 9); oder der Verf. fpricht von dem
,Ungeftüm ekftatifchen Wefens' und der damit gegebenen
,Aufregung' (S. 12. 95. 119. 137); anderswo gehört zum Ekftatifchen
,was den Stempel der Offenbarung an fich trägt'
(S. 76. 77. 105). Vor allem erhellt das Wefen des Ekftatifchen
aus dem, was den Gegenfatz zu demfelben bildet: