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Ausgabe:

1902 Nr. 22

Spalte:

600-601

Autor/Hrsg.:

Bindemann, Gerhard

Titel/Untertitel:

Das Gebet um tägliche Vergebung der Sünden in der Heilsverkündung Jesu und in den Briefen des Apostels Paulus 1902

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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599

Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 22.

600

Der junge Ernft Renan befuchte noch die Schule
Treguier's (Bretagne), und lebte in dem befcheidenen
Provinzftädtchen unter der Pflege feiner Mutter, als er,
der mit Preifen und Auszeichnungen reich gekrönte
Secundaner, durch die Vermittelung feiner hochbegabten
, ihn mit mütterlicher Liebe und Fürforge umgebenden
Schwefter ein auf zehn Jahre hinaus gültiges
Stipendium erhielt, das ihm die unentgeltliche Aufnahme
in die Seminare von Saint-Nicolas, Iffy und Saint-
Sulpice ficherte. Das anmuthige Bild, dafs Renan in
feinen Souvenirs oTcufancc et de Jeunesse entworfen
hat, wird aus den hier mitgetheilten Briefen durch
manche Züge ergänzt und bereichert. Neben der zärtlichen
Liebe zur Mutter, die in allen Briefen zu niemals
fleh genug thuendem Ausdrucke kommt, tritt aus
allen Aeulserungen des Gymnafiaften die naivfte, unge-
heucheltfte, fchwärmerifchfte Frömmigkeit hervor. In dem
Heimweh, das ihn anfangs ergreift, findet er in der Anrufung
der heiligen Jungfrau Troft und Ruhe (S. 4—5);
die Gewifsheit, dafs feine Schulkameraden in Treguier
für ihn beten, gereicht ihm zur Freude und zur Erquickung
(S. 23); aus voller Seele und mit ungetheilter
Hingebung fchliefst er fich an alle kirchlichen Üebungen
an, feiert alle grofsen und kleinen Fefle mit, begrüfst
mit Begeifterung das Herannahen des Marienmonats, verrichtet
aufs gewiffenhaftefte die häufig wiederkehrenden,
in der Einfamkeit und Stille zu vollziehenden Andachtsübungen
(Retraites), berichtet mit fichtbarem Intereffe
und innerner Theilnahme über die feierlichen in Notre
Dame oder anderen Kirchen abgehaltenen Gottesdienfte;
die Namen Dupanloup, Ravignan, Lacordaire, Quelen, Affre
fpricht er nur mit tieffter Hochachtung und Verehrung
aus (S. 19. 31. 47—49. 51. 55. 75. 80. 86. 100—101. 126.
160). Zwar finkt gegen Finde der hier zur Darflellung
gebrachten Periode die Temperatur diefer Religiofität
allmählig um einige Grade; aber auch noch in einem
Briefe vom 2. Mai 1845, als bereits einige Symptome
einer veränderten Stellung zwifchen den Zeilen der Briefe
an die Mutter zu lefen find, fpricht Renan noch mit
Entrüftung über die von E. Quinet und Michelet im
College de France gehaltenen Vorlefungen (S. 250:
des declamations perpetuelles eontre tont ce qiCil y a de
saiut et de respectable). Die in den engften Formen
katholifcher Frömmigkeit fich bewegende Mutter ahnt
mit fteigender Klarheit und Angft die Wahrheit, welche
ihr der um die Ruhe der innig geliebten Mutter beforgte
Sohn zuweilen mit äufserfter Vorficht andeutet, im Grofsen
und Ganzen aber doch verheimlicht, bis ihr die muthige,
edle, allen diplomatifchen Winkelzügen abholde Henriette
in einem herrlichen, ebenfo freimüthigen als liebevollen
Briefe (15. März 1846) den wahren Thatbeftand mittheilt.
Die zarte Rückficht, mit welcher Renan feiner Mutter begegnet
und die ihn felbft vor jefuitifchen Zweideutigkeiten
nicht zurückfehrecken läfst, bringt es mit fich, dafs
wir aus diefen Briefen wenig über die innere Krifis erfahren
, die fchliefslich zum Bruche mit der Kirche führte.
Aus einem Briefe vom 28. April 1843 läfst fich bereits
ein charakteriftifches Symptom entdecken, das indeffen
noch keine weitgreifende Rückfchlüffe geblattet: Renan,
der die ihn übrigens noch zu keinem unwiderruflichen
Gelübde verpflichtende Tonfur erhalten foll, fühlt fich
gedrungen, noch zu warten und die wichtige Handlung
hinauszufchieben, überläfst aber die Entfcheidung feiner
Mutter und feinem Beichtvater. In der Weihnachts-
woche desfelben Jahres wird nun zwar die Tonfur vollzogen
(S. 236—238), aber vor dem Empfange der niederen
Weihen des Subdiaconats ftellen fich neue Skrupel und
Schwankungen ein (S. 249). Unter diefen für die ftreng
katholifche Mutter fo forgenerregenden Verhältnifsen
ift die Haltung der hochherzigen Frau wahrhaft bewunderungswürdig
: fie hatte einft ihr fchwerkrankes Kind
der Mutter Gottes geweiht und hegte den fehnlichften
Wunfeh, es in den Dienft der Kirche treten zu

fehen (S. 190—191); die Ausficht auf die nahe Erfüllung
diefes Wunfehes erfüllt fie mit unbefchreiblicher Wonne
und innigem Danke gegen Gott. Aber fie findet in ihrer
felbftlofen Liebe zu dem edlen, feinem Gewiffen treuen
Sohne die Kraft, auf den eigenen Herzenswunfch zu
verzichten und das Opfer zu bringen (S. 279. 295). Zwar
handelt es fich in dem letzten hier mitgetheilten Briefe
noch keineswegs um einen Austritt aus der Kirche,
fondern lediglich um den Verzicht auf das Priefterthum,
all ein die Worte, die fie dem der Pflege der Wiffen-
fchaft und dem Verkehr mit der Welt fich zuwendenden
Sohne entfendet, laffen bereits ahnen, dafs die
Mutter auch fpäter an ihm nicht irre werden follte. Die
entfeheidende Rolle fpielte aber in jenen für die ganze
Fintwickelung des jungen Gelehrten fo bedeutfamen Zeiten
Renan's guter Genius, feine Schwefter Henriette, welcher
er zunächft in der Widmung des Lebens Jefu, dann in
einem zart ausgeführten Charakterbild ein bleibendes
Denkmal gefetzt hat. Doch erft aus dem Briefwechfel
der beiden Gefchwifter gewinnt man den vollen Ein-

I druck und die erfchöpfende Kunde von der Seelengröfse,
der geiftigen Ueberlegenheit und der felbftlofen Energie
jenes ausgezeichneten Mädchens.

Abgefehen von der Schilderung der Individualität
und des Lebensganges Renan's enthält das Buch noch
viel des Intereffanten und Lehrreichen. Der Gefchichte
des Unterrichts - und Erziehungswefens würden diefe

j Briefe werthvolle Beiträge zur Charakteriftik der klerikalen
Erziehung liefern (z.B. S. 37 f.); die fyftematifche
Pflege des Ehrgeizes und des unter den Schülern immer
wieder wachgerufenen und lebendig erhaltenen Wetteifers
erreicht zuweilen bedenkliche Proportionen (S. 59- 102
131—132). In einem Briefe vom 24. Februar 1846 findet
fich zum erften Male der Name Berthelot's (S. 312), welcher
der intimfte Freund Renan's wurde und mit ihm eine in
der Revue de Paris veröffentlichte Correfpondenz führte,
die beiden Männern zu gleicher Ehre gereicht. — Unter
den 45 hier mitgetheilten Briefen befinden fich auch drei
von Henriette R., und fechs von der Mutter Renan's. Sie
find den übrigen durchaus ebenbürtig und dienen den-
felben zur werthvollen Ergänzung. — Die fchöne Aus-
ftattung des, wie fämmtliche Werke Renan's, im Verlage
von Calmann-Levy erfchienenen Buches, verdient alle
Anerkennung; das vornehme und elegante Buch koftet
nur 6 M.

Strafsburg i. E. P Lobftein.

Bindemann, Lic. theol. Gerhard, Das Gebet um tägliche
Vergebung der Sünden in der Heilsverkündigung Jesu und
in den Briefen des Apostels Paulus. (Beiträge zur Förderung
chriftlicher Theologie. Sechfter Jahrgang 1902.
Erftes Heft.) Gütersloh 1902, C. Bertelsmann. (105 S.
gr. 8.) M. I.50

Wiederholt ift in neuerer Zeit darauf hingewiefen
worden, dafs Paulus die Rechtfertigung aus Glauben auf
die anfängliche Aufnahme des Sünders in den Gnaden-
ftand beziehe, aber für die im Gnadenftande befindlichen
Chriften nicht fowohl das ftete Bedürfnifs nach neuer
Sündenvergebung, als vielmehr die Möglichkeit und Noth-
wendigkeit der Befreiung von der realen Macht der Sünde
betone. Der Vf. der vorliegenden Schrift will prüfen,

j ob es fich wirklich fo mit der Auffaffung des Paulus verhält
. In einem einleitenden Abfchnitte behandelt er die
fünfte Bitte des Vaterunfer, um zu zeigen, dafs nach Jefu

j Anfchauung auch die Jünger, obwohl fie im gläubigen
Anfchlufs an ihn Sündenvergebung fchon befitzen, doch
täglich auf das neue Gebet um Vergebung angewiefen
find. Er fucht dann zuerft nachzuweifen, dafs Paulus und
die paulinifchen Gemeinden das Vaterunfer gekannt haben.
In II Tim. 4i7f. findet er eine Anfpielung auf die letzte
Bitte und die Doxologie und in dem zweimaligen üßßä o