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Ausgabe:

1902 Nr. 14

Spalte:

411-413

Autor/Hrsg.:

Thümmel, W.

Titel/Untertitel:

Die Versagung der kirchlichen Bestattungsfeier 1902

Rezensent:

Bassermann, Heinrich

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 14.

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fprung des Rechtes finden, aber nicht den der Sittlichkeit.
Das Willensverhältnifs, von dem St. redet, ift nicht durch
fittliches Wollen hervorgebracht. Der Verf. ift alfo nicht

den Jionor ecclesiasticus ift. Die Verweltlichung tritt
wieder ein. Die Aufklärung führt um die Mitte des
18. Jahrh. den Untergang des Bannes und damit der Unter-

davon losgekommen, das Sittliche auf Vorfittlich.es zu- j läge der Vertagung der Beftattungsfeier herbei. Das
rückzuführen. Es ift ihm dabei ergangen, wie Herbart, [ 19. Jahrhundert bringt fie auch in den evangelifchen
der trotz des Lobes, das er Kant fpendet, in diefem Kirchen wieder einigermaafsen in Aufnahme, in welchem
Hauptpunkte nicht durch Kant belehrt ift. — Die fitt- Umfange und in welcher Art, erfieht man gut aus einer
liehe Aufgabe ift für den Verf. in der Forderung ausge- Tabelle S. 140 f. Diefer gefchichtliche Theil des Buches,
drückt: wolle die Gemeinfchaft. Ich meine aber, wenn von dem ich der Kürze halber nur die allergröbften Um-
diefe Forderung wirklich fittlich verftanden wird als eine riffe gegeben habe, zeichnet nicht nur ein klares Bild von
unbedingte, fo läfst fie fich leicht in die andere gleich- j der hiftorifchen Entwickelung des Gegenftandes im Ganzen,

werthige überführen: fei frei. Symbol der Vernunft im
Wollen ift nicht, wie der Verf. fagt, die Gemeinfchaft,
fondern die Gemeinfchaft und die freie Perfönlichkeit.
Beide ftellen die unerfchöpfliche über alles Gegebene
hinaus liegende Aufgabe dar, die uns nöthigt, die Idee
vom Begriff zu unterfcheiden, und die das Wollen wahrhaftig
macht. Das durch die Idee des Guten in feiner
Richtung beftimmte und dadurch wahrhaftige Wollen ift
die Sittlichkeit. — Ich halte aber den erfteren Einwand

fondern enthält auch eine Menge intereffanter Details,
worüber ich mich jedoch des Urtheiles enthalten mufs.

Was aber nun den praktifchen Theil betrifft, fo ift
mein Urtheil kurz diefes, dafs zwar die Theorie des ein-
zufchlagenden Verfahrens mir richtig entwickelt zu fein
fcheint, trotzdem aber ihrer praktifchen Verwirklichung
fchwere Bedenken, wo nicht unüberfteigliche Hindernifse
im Wege flehen.

Für richtig halte ich, dafs der Begriff von ,Kirchen-

für den wichtigeren. Denn fichere Schritte in der Er- ftrafen' fowohl als poenae vindicativae wie als poenae
kenntnifs können nur gemacht werden, wenn man nicht medicinales ganz aufgegeben wird (S. 152f.), dafs ferne«-

nur im Stande ift, von einer Anfchauung des fittlich be-
ftimmten Bewufstfeins auszugehen, fondern auch fich
ftreng darauf befchränkt, die Gedanken, in denen diefes
Bewufstfein fich bewegt, in ihrem inneren Zufammen-
hange darzuftellen.

Marburg. W. Herrmann.

T h ü m m e I, Prof. W., Die Versagung der kirchlichen Bestattungsfeier
, ihre gefchichtlicheEntwickelung und gegenwärtige
Bedeutung. Leipzig 1902, J. C. Hinrichs'fche Buchh.

(VIII, 196 S. gr. 8.) M. 2.80 I ünd fucht mich Garantien gegen dieselben (S. 165Ö: I. es

der einzige Zweck der Vertagung in der Zurückweifung
von etwas zu fehen ift, wodurch die Heiligkeit und das
Anfehen der Gemeinde verletzt ift (S. 156). Somit gehört
die Maafsregel in das Gebiet der Kirchenzucht, die, im
Unterfchiede von der Seelforge, nicht beffern oder ftrafen,
fondern nur die Kirche und ihre Veranftaltungen rein erhalten
will (Vorw. p. III). Es ift eine Art ,geiftlicher
Tempelpolizei', ein Theil der kirchlichen Ausfchliefsung
(S. 15gf.), die ebenfalls keinem anderen Zwecke kann
dienen wollen. Sie ift jeder auf fich felbft haltenden Gemeinfchaft
unentbehrlich. Natürlich macht fich auch der
Verf. die naheliegenden Gefahren ihres Mifsbrauches klar

Vorliegende intereffanteStudie des bekannten früheren I mufs Raum und Recht auch für Nichtchriften vorhanden
Remfcheider Pfarrers Thümmel verfolgt den Zweck, die 1 fein, fo dafs die Vertagung der kirchlichen Feier keine
Vertagung der kirchlichen Beftattungsfeier in ihrer Be- ! weltliche Schädigung mit fich führt; 2. ein ordentliches
rechtigung, ja Nothwendigkeit auch für die evangelifchen ! Verfahren mufs vorausgehen; 3. den Anlafs darf nur
Kirchen darzuthun und die Wege zur evangelifch-correcten öffentlich erkennbares Aergernifs geben, wodurch feft-
Verwirklichung diefer Kirchenzuchtsmaafsregel zu zeigen. J geftellt ift (S. 168), dafs zwifchen dem Verftorbenen und
So liegt ihr Schwerpunkt in dem II. Abfchnitt ,die gegen- | der gläubigen Gemeinde keine Gemeinfchaft in Chriftus
wärtige Bedeutung' (S. 151—196), für den der I. ,üie ge- i beftanden hat. Die ganze kirchliche Beftattungsfeier fammt
fchichtliche Entwickelung' trotz feiner gröfseren Aus- I Rede wird dabei (S. 171) fehr richtig als lediglich kultifch-
dehnung nur den Unterbau abgiebt. Diefe, auch im Ein- I darftellender Art vorausgefetzt. Will fich neben ihr eine
zelnen feilgehaltene Verbindung des Praktifchen mit dem j weltliche herausbilden, nach Analogie der Civilehe, fo ift
Gefchichtlichen ift nur zu billigen. Aus der Gefchichte,
nicht auf theoretifchem Wege wird der urfprüngliche und
genuine Sinn der in Rede flehenden Maafsregel gewonnen.
Es ift kurz der, ,dafs die Beftattungsfeier die den Tod
überdauernde Gemeinfchaft mit Chrifto und dadurch auch
mit der Gemeinde bezeugen und feiern foll' (S. 48). Eine
Entfcheidung Leos I, die dann zur Grundlage der kirchlichen
Rechtsbildung geworden ift, drückt dies mit den

dem im Intereffe der Kirche nicht entgegenzutreten (S. 174).
Dem allen kann ich principiell nur beipflichten.

Meine Bedenken beginnen erft da, wo nun diefe
principiellen Anfchauungen in die Praxis übergeführt
werden follen (S. 178 ff.). Schon die Frage nach dem
Subjecte, von dem die Verfagung ausgeht, ift mit dem
Recurs auf die Gemeinde oder ,Gefammtkirche' und mit
Aufftellung einer ,Kirchenzuchtcommiffion' nicht zu löfen:
W'orten aus: quibus viventibus non communieavimus,mortuis bei der gewöhnlichen Unfelbftftändigkeit der ,Laien' bleibt
ommunicare non possumus (S. 42 f.). Allein indem nun doch Alles fchliefslich am Pfarrer hängen. Auf deffen

frühe fchon die einzelnen Beftandtheile der Feier, nament- tactvolle Entfcheidung müfste man fich doch verlaffen;
lieh die Abhaltung der Euchariftie, als media salutis für ob man das kann, ift mir fehr zweifelhaft. Nun ift aber
die Todten angefehen werden, bahnt fich der davon ab- alle möglichen Fälle, in denen die Verfagung ftattfinden
weichende Sinn der Verfagung als einer Kirchenftrafe an. j kann, in den Verordnungen aufzuzählen unmöglich, ,mehr
Diefer beherrfcht das Mittelalter, in welchem diefe Strafe 1 als Anhaltspunkte für das Eintreten des erften Verfahrens'
zugleich in dem Maafse verweltlicht, dafs fogar Verfagung 1 können fie ja nicht fein wollen (S. 185). Dazu kommt
einer Beftattung überhaupt, nicht blofs der kirchlichen j noch, wie Thümmel richtig fleht, dafs, auch wenn beFeier
, ftattfindet. Die Reformation verändert zwar, in- 1 ftimmte Kategorien darin aufgezählt werden, denen die
dem fie die Beftattungsfeier nicht mehr als adjutorium I kirchliche Beftattung zu vertagen ift, bei der wefentlich
mortuoruni anfleht, die Bedeutung derfelben grundfätzlich, - innerlichen Schätzung, die der evangelifchen Kirche eigen
gelangt aber im Uebrigen auf lutherifcher Seite — vor ! ift, doch überall gewiffen Ausnahmen ftattgegeben werden
allem wohl wegen des Mangels an wirklicher Gemeinde- ■ mufs. Wer aber will nun und wonach foll man be-
bildung — zu keiner klaren principiellen Stellungnahme, ! ftimmen, ob z. B. ein noch nicht Getaufter doch ,fonft im
während für die ftreng Reformirten die Beftattung über- ' Werk und ganzen Wefen die Früchte des Geiftes Chrifti
haupt kein kirchliches Werk mehr ift. Das Zeitalter der j aufwies' (S. 183)? Oder ob ein freiwilliger Austritt doch
Orthodoxie kehrte zur ,Kirchenftrafe' zurück, deren Inhalt i fittlich ehrenhafte Motive gehabt hat (S. 184)? Oder ob
die Entziehung eines in Cerimonien und Reden beftehen- 1 ein Selbftmord nicht etwa das Siegel unter ein wider-