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Ausgabe:

1902 Nr. 12

Spalte:

347-351

Autor/Hrsg.:

Baudissin, Wolf W. Graf

Titel/Untertitel:

Einleitung in die Bücher des Alten Testamentes 1902

Rezensent:

Smend, Rudolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 12.

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gegnerifchen Anflehten ftets anftändige und maafsvolle
Schrift des ,Mönches der Beuroner Congregation' hinreichend
charakterifirt fein.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Baudissin, Prof. Wolf Wilhelm Graf, Einleitung in die
Bücher des Alten Testamentes. Leipzig 1901, S. Hirzel.
(XVIII, 824 S. gr. 8.) M. 14.—

Graf Baudiffin ftellt fich in Gegenfatz zu der gewöhnlichen
Behandlung der alttefiamentlichen Einleitung, der er
mit Recht vorwirft, dafs fie ,eine Aufzählung und Abwägung
kritifcher Wahrnehmungen geworden und dabei der Einblick
in die charakteriftifche Geftalt der ganzen Bücher und des
gefammten Gebietes verloren gegangen fei'. Er will dem
gegenüber .ein mehr auf die Eormendetails eingehendes
Bild der althebräifchen Literatur' geben und die einzelnen
Bücher fo charakteriüren, ,wie fie fich dem Auge des ur-
theilenden Beobachters als eine zumeift aus verfchiedenarti-
gen Einzelheiten zufammengefetzte Gefammterfcheinung
darftellen'. Er nimmt von der kritifchen Analyfe überall
Notiz und jeder Lefer wird dabei gelegentlich auf Einzelheiten
ftofsen, die ihm felbft entgangen waren. Zumeift
hat er fich aber darauf befchränkt, die Refultate diefer
Analyfe zu beurtheilen. In der Hauptfache will er vielmehr
die Compofition der einzelnen Bücher vorftellig
machen und vor allem eine Anfchauung von der Eigenart
der verfchiedenen Autoren und Literaturzweige gewinnen
.

Ohne Zweifelift die kritifche Analyfe der alttefiamentlichen
Literatur gegenwärtig ftark ins Kraut gefchoffen, fie
hat den Unterfchied zwifchen Evidenz und beliebig zu vari-
irender Möglichkeit, deffenihreBegründer fich wohl bewufst [
waren, vielfach aus dem Auge verloren. Aber ein Handbuch
der Einleitung mufs in erfter Linie die kritifche
Analyfe in ihren Hauptmomenten darlegen und begründen.
Zugleich mufs es aber dem Lefer ein Bild von dem Inhalt
der einzelnen Schriften geben, eine Aufgabe, die freilich
in den Handbüchern zuweilen kaum ins Auge gefafst j
wird. Denn für die meiften alttefiamentlichen Bücher kann I
eine genauere Bekanntfchaft mit ihrem Inhalt nicht vorausgefetzt
werden; überall aber ift eine Inhaltsangabe unentbehrlich
, die auf intimem Textverftändnifs beruhend die
literarifche Eigenart der ganzen Bücher wie aller wichtigeren
Abfchnitte charakterifirt und dabei die für die kritifche
Analyfe in Betracht kommenden Momente hervorhebt.
M. E. follte ein Handbuch der alttefiamentlichen Einleitung
gröfstentheils hierin aufgehen, fich im kritifchen
Raifonnement dagegen auf die Hauptfachen und die
wichtigften Einzelheiten befchränken.

Für die hiftorifchen Bücher bietet auch das vorliegende
Handbuch unzureichende Inhaltsangaben. Von der Erzählung
des Hexateuch, der Bücher Richter, Samuel und
Könige, vom Gefetz des Deuteronomiums und den Liedern
des Pentateuch bekommt der Lefer keine deutliche Vor-
ftellung. Eingehender ift die Charakterifirung der einzelnen
prophetifchen Abfchnitte, wenngleich fie präcifer
gefafst fein könnte. Ausführlich ift fie für das Hohelied
und Koheleth, zu breit für die Proverbien gegeben.
Uebrigens betrachtet der Verf. die kritifche Analyfe
der hiftorifchen Bücher, foweit er ihr Recht anerkennt, im
wefentlichen als erledigt. Er verzichtet deshalb darauf,
den Einzelbeweis für ihre Richtigkeit von neuem zu
führen, den er denCommentarenundSpecialunterfuchungen
überläfst. Für die Nothwendigkeit der Quellenfcheidung,
das gegenfeitige Verhältnifs der Elemente, ihren verfchiedenen
Sprachgebrauch, ihre verfchiedene Stellung in
der Gefchichte der Ueberlieferung und der Sage, die
Entftehung von Ueberlieferung und Sage, für alles das
ift der Lefer deshalb mehr auf Behauptungen als auf
Gründe angewiefen. Die kritifche Analyfe mufs aber

gerade für die hiftorifchen Bücher, bei denen fie ihren
Anfang genommen und die ficherften Refultate erreicht
hat, in den wichtigften Einzelheiten demonftrirt werden.
Hebräifche Wörter kommen feiten und dann nur in Trans-
feription vor. Stellenangaben finden fich nur unter dem
Texte, oft fehlen fie völlig. Wir hören von den Spuren
nachmofaifcher Zeit in der pentateuchifchen Erzählung
(S. 61 ff.), von Hinweifungen auf das Exil in Jef. 40ff.
(S. 387!!.), von Pfalmen, in denen ein Einzelner von feinen
persönlichen Erlebnifsen rede (S. 639), von einem eigenartigen
Stücke von 22 Verfen in Prov. 1—9 (S. 719), ohne
dafs ein Citat uns über das Gemeinte aufklärte. Ebenfo
ift von der Annahme grofser Umftellungen im Buche
Koheleth die Rede, ohne dafs Bickell überhaupt genannt
wird (S. 774). Durch diefen Mangel ift die praktifche Brauchbarkeit
des Buches in Frage geftellt. Auch fonft fetzt es
an manchen Orten Kenntnifse voraus, die der ftudentifche
Lefer nicht befitzt.

DieRedactionunddiefpätereBearbeitung der einzelnen
Bücher wird dagegen zu breit befprochen. Die Gefchichts-
behandlung der Chronik wird auf vier Seiten erörtert
(S. 274—78), die verhältnifsmäfsig gleichgültige Frage nach
ihren Quellen auf fechs (S. 268—74). Die echten Reden Jeremias
an Juda werden auf drei Seiten behandelt (S. 425—28),
Nichtjeremianifches in C. 1—45 auf vier (S. 429—33), die
Weisfagungen gegen die Heiden auf neun (S. 434—43).
Bezüglich der Redaction des Buches Jefaja hätte der Verf.
die richtige Einficht, dafs in Jef. (1) 2—12 eine fpäteftens
bald nach Jefajas Tode veranftaltete Sammlung feiner
Reden zu Grunde liegt, leicht auf Jef. 1—39 ausdehnen
können. Die herrfchende Vorftellung von drei Sammlern,
von denen der eine fich nur für die älteren (C. 1—12),
der andere nur für die fpäteren Reden an Juda (C. 24—35),
der dritte nur für die Reden an die Heiden (C. 13—23)
intereffirt hätte, ift abenteuerlich. Sie beruht lediglich
auf der Ueberfchrift KlDtt, die fich regelmäfsig in C. 13—23
(aber auch 300) findet. Diefe Ueberfchrift erklärt fich
aber einfach daraus, dafs die einzelnen Weisfagungen an
fremde Völker fich durch ihren Inhalt fehr viel fchärfer
von einander abheben als die übrigen. Uebrigens
nehmen, abgefehen von C. 17, die echten Weisfagungen
Jefajas an die Heiden in der That eine zeitliche Mittel-
flellung ein.

Nur unter Ueberwindung fchwerer Bedenken, aber
aus den Gründen, die fchon in feiner Gefchichte des alttefiamentlichen
Priefterthums dargelegt find, meint der
Verf. an der vorexilifchen Entftehung des Prieftercodex
fefthalten zu follen. Er ift auch geneigt vorexilifche
Pfalmen anzunehmen, und Prov. iOiff., 25iff., fowie einen
Grundftock des Hohenliedes fetzt er vor dem Exil an.
Im Allgemeinen bewegt er fich aber durchaus in den
Bahnen der neueren Kritik, fo dafs man feinen Urtheilen
meiftens zuftimmen mufs. Wo er feine eigenen Wege
geht, vermifst man dagegen oft eine ausreichende Begründung
. Bezüglich des Dekalogs von Ex. 20 bemerkt
er(S. 68), dafs zwifchen Arnos und Mofe in der Gefchichte
Israels kein Punkt fich finde, wo eine religiöfe Neufchöpfung
fich anfetzen liefse, der ethifche Charakter der Religion
aber von den Propheten vorausgefetzt werde. Deshalb
werde er auch irgendwie von dem Begründer des israe-
litifchen Volksthumes formulirt fein. Fraglich könne nur
fein, wie viel von dem im Dekalog Enthaltenen bis auf
Mofe zurückzuführen fei. Aber das Wefen einer Religion
braucht nicht von Anfang an in beftimmten Sätzen formulirt
gewefen zu fein. Uebrigens hatte jede nationale
Religion nothwendiger Weife ,ethifchen Charakter', deshalb
konnten die Moralgebote des Dekalogs von Ex. 20
die Eigenart der altisraelitifchen Religion nicht ausdrücken.
Daneben hatte aber jede nationale Religion, und fo auch
die altisraelitifche, zunächft einen cultifchen Charakter und
in der befonderen Geftalt ihres Cultus brachte fie ihre
Eigenart zum Ausdruck. Deshalb mufs der Dekalog von
Ex. 20, der die Moral als den alleinigen Inhalt des gött-