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Ausgabe:

1902 Nr. 8

Spalte:

235-237

Autor/Hrsg.:

Titius, Arthur

Titel/Untertitel:

Die neutestamentliche Lehre von der Seligkeit und ihre Bedeutung für die Gegenwart. 3. u. 4. Abth 1902

Rezensent:

Weiß, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 8.

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Welthauptftadt (?) fchildern wollte, fo hatte fie fich doch
in ihrem zweiten Theil auf Grund der Schrift eines Reifegefährten
des Paulus zu einer Gefchichte deffen ausge-
wachfen, die nicht fo plötzlich abbrechen konnte, wenn
er aus diefer Gefangenfchaft befreit worden war und
neue Reifen gemacht hatte. Der hypothetifche rgitog
loyog oder der fog. Raumzwang erklären hier gar nichts;
denn wie das Evangelium (auch nach dem urfprüng-
lichen Text) noch kurz der Himmelfahrt gedachte, fo
hätte auch die Apoftelgefchichte gewifs auf jene Er-
eignifse wenigftens hingewiefen, wenn fie von ihnen
wufste. War es dagegen bekannt, dafs Paulus nach
Ablauf jener ungefähr zwei Jahre den Märtyrertod
geftorben war, fo konnte der autor ad Theophilum —
nicht, weil er darin eine Niederlage des Evangeliums
gefehen hätte, fondern aus äfthetifchen Gründen — vorher
den Vorhang fallen laffen, wie auch der Dichter
feinen Helden nicht auf der Bühne enthauptet werden,
fondern mit erhobenem Haupte abgehen läfst.

Halle a. S. Carl Clemen.

Titius, Lic. Prof. D. Arthur, Die neutestamentliche Lehre
von der Seligkeit und ihre Bedeutung für die Gegenwart,

dargeftellt. Der gefchichtlichen Darftellung dritte Abtheilung
. Die johanneifche Anfchauung, unter dem
Gefichtspunkt der Seligkeit dargeftellt. Tübingen 1900,
J. C. B. Mohr. (VIII, 143 S. gr. 8.) M. 3.20

— Dasfelbe. 4. (Schlufs-) Abtheilung. Die vulgäre Anfchauung
von der Seligkeit in Urchriftenthum, ihre Entwicklung
bis zum Uebergang in katholifche Formen.
Ebd. 1900. (XI, 250 S. gr. 8.) M. 5.80

Endlich folgt hier die Befprechung der beiden letzten
Theile des grofsen Werkes von A. Titius. Das allgemeine j hervorgehoben werden können, dafs, wenn hier zwar nicht

actes ift auch trotz des Johanneifchen Determinismus feilzuhalten
. Die Stelle, welche im Syftem des Paulus die
Rechtfertigungslehre einnimmt, wird hier durch den Gedanken
des Gerichtes ausgefüllt, das bald eschatologifch
gedacht, bald in die Gegenwart hineingezogen wird, ohne
dafs man deswegen von einer ,Doublette' reden dürfte.
In dem Gedanken der Gotteskindfchaft ftofsen bekanntlich
zwei Betrachtungsweifen zufammen, die determiniftifche
von der Zeugung aus Gott und die ethifche von einem
gegenfeitigen Liebesverhältnifs zwifchen Vater und Kind.
Dazu kommen noch Anklänge an die rechtliche Anfchauung
des Paulus. Ich würde richtiger finden, diefe
Elemente unverbunden nebeneinander flehen zu laffen,
als fie durch den Gedanken des ,Heranreifens' zu Söhnen
Gottes in eine Einheit zu zwingen, die nun einmal hiftorifch
nicht vorhanden war. Auch an Johannes richtet Titius
die dogmatifche Frage nach dem Verhältnifse der Sittlichkeit
zum Heilsgedanken, mufs aber bekennen, dafs er
hier auf Schwierigkeiten ftöfst. Denn der ethifche Gefichtspunkt
ift mit allen anderen fo eng verbunden, dafs
man hier noch einmal die ganze Johanneifche Theologie
aufrollen müfste. ,Es ift deshalb, wenn man nicht grofse
Wiederholungen in den Kauf nehmen will, fchwierig, dies
Moment für fich zu ifoliren und zur Darfteilung zu bringen.'
Hier zeigt fich eben wieder der Grundfehler der Anlage.
Wenn man die Gedanken eines Schriftftellers nach fremden
Kategorien darfteilt, darf man fich nicht wundern, wenn
man in Schwierigkeiten kommt. Andererfeits bietet gerade
die Johanneifche Theologie hier ein eigentümliches
Material. Die Anfchauung von dem faft naturhaften Zu-
fammenhang zwifchen Gottesgemeinfchaft und Liebesübung
einerfeits und die umgekehrte, dafs man nur durch
das Thun der Gebote fich in der Liebe Gottes und Chrifti
erhält, find fehr charakteriftifch. Wohl hätte etwas mehr

Urtheil ändert fich auch ihnen gegenüber nicht: Grofser ! die Heilserlangung, aber doch die Heilsbewahrung vom
Stoffreichthum,aufserordentlicheDurchdringungdesStoffes ! Thun des Menfchen abhängig gedacht wird, die eigen-
mit einer Fülle eigener Gedanken, ftark fyftematifirende ' thümliche Paulinifche Frageftellung ganz vergeffen ift.
Anordnung und eine dogmatifirende Betrachtungsweife, j Das nomiftifche Mifsverfländnifs liegt völlig aufser Sicht,
die fich von fubjectiven Zurechtlegungen nicht frei erhält. j Wenn andererfeits das mofaifche Gefetz abrogirt ift, der
Ich möchte indeffen ausfprechen, was mir freilich felbft- , Wille Gottes aber als unverbrüchliche Norm erfcheint, fo
verftändlich ift, dafs der Verfaffer überall hiftorifch ver- j hat das den Paulinismus zur Vorausfetzung, fteht aber
fahren will. Aber Niemand kann gegen feine Natur, j fachlich der fittlichen Empfindungsweife Jefu nicht fern.
Und der Genius, der über diefer Arbeit waltet, ift nun j In den letzten Capiteln (6.8) über die ,Lebensgemeinfchaft
einmal ein fyftematifcher. Das ift infofern ein Mangel, I mit Chriftus und mit Gott', fowie über die ,Erkenntnifs'
als ein gefchichtliches Bild dabei nicht in vollkommener ! macht fich leider der Uebelftand geltend, dafs durch die
Weife herausgekommen ift. Aber es hat auch feine Vor- j breite umftändliche Erörterung des Verfaffers die Anzüge
. Das fyftematifche Verfahren hilft auch Zufammen- fchaulichkeit und Lebendigkeit leidet. Hier gilt das Wort
hänge entdecken, diedem empiriftifchenSammler entgehen. Wellhaufen's über Hiob, dafs ,man die Strahlen concen-

Und wer in die fchwerwandelnde Darfteilung wirklich
eindringt, wird auch als Hiftoriker Nutzen haben, ohne an
feinem gefchichtlichen Sinne Schaden zu leiden.

Die dritte Abtheilung fteht mit den beiden erften in
einem innigeren Zufammenhange, da hier das Beftreben

triren' müffe. Ein Bild der Perfönlichkeit und Frömmigkeit
des Johannes wird um fo lebendiger fein, je knapper
es ift und je mehr die wenigen Hauptgedanken hervortreten
. Wenn der Lefer der Johanneifchen Schriften gar
leicht von dem ewigen Hin- und Herwenden der Ideen

befonders deutlich ift, die Nachwirkungen Jefu aufzuzeigen I ermüdet wird, fo foll der reproducirende Hiftoriker feinem
und das Ewiggültige aus dem zeitlich Bedingten heraus- J Autor zu Hilfe kommen und zeigen, wie die Anfchauung
zuheben. Die Tendenz auf Umformung der urchriftlichen 1 des Johannes in wenigen grofsen Linien verläuft und im
Eschatologie, die fchon bei Paulus fo ftark hervortrat, j Grunde genommen weit einfacher ift, als fie zuerft erfcheint.
kommt in gewiffer Weife bei Johannes zur Vollendung. Es kommt nicht darauf an, jede Stelle auszunutzen, wohl
Man darf fich hier nicht ftören laffen durch die Ver- j aber darauf, den Hauptftellen ihre volle Kraft zu fichern
ficherung, ,eine innere Veränderung der geiftigen Haltung und fie nicht in derMaffe des Uebrigen erfticken zu laffen.
Jefu liege nicht vor.' Die Darftellung im Einzelnen weicht Die vierte Abtheilung erfcheint mir als eine befonders

von diefem Satze glücklicherweife erheblich ab. Vortreff- j dankenswerthe Leiftung. Als fie erfchien, war fie etwas
lieh finde ich den Nachweis, wie neben der Hineinziehung j völlig Neues. Denn noch nie war fo wie hier die vulgäre
des ,ewigen Lebens'in die Gegenwart der eschatologifche Anfchauung des Urchriftenthums dargeftellt worden.
Rahmen nicht nuräufserlich beibehalten wird; dieHoffnung j Jetzt hat fie an den entfprechenden Partien in Wernle's
auf Vollendung bleibt ein beherrfchender Factor in der | anfehaulichem Buche einen gefährlichen Concurrenten.
Johanneifchen Frömmigkeit. Dafs der Belitz des Lebens ! Aber das Verdienft des Verfaffers wird dadurch nicht

durch den Glauben bedingt ift, lehrt Johannes im Einver-
ftändnifs mit Paulus; der Glaube ift nicht blofs intellectuelle
Zuftimmung zur chriftologifchen Thefe, fondern Ueber

gefchmälert. Schon dafs die Darftellung auf die apofto-
lichen Väter ausgedehnt wird, ift verheifsungsvoll. Vor
allem aber ift die Stellung der Aufgabe fehr erfreulich.

zeugung, dafs Jefus fei, wofür er fich giebt, nämlich J Es ift endgültig mit dem Schematismus der Lehrbegriffc
Lebensfpender'. Der ethifche Charakter des Glaubens- ' gebrochen, und es wird der Verfuch gemacht, den hier