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Ausgabe:

1900 Nr. 23

Spalte:

643-644

Autor/Hrsg.:

Kropatscheck, Friedr.

Titel/Untertitel:

Occam und Luther 1900

Rezensent:

Köhler, Walther

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Seite 1

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Ö43

Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 23.

644

Vertiefung zu behandeln fich vornähme und felbftver-
fländlich nicht vom Standpunkte des Fachgelehrten, fei
es des Philologen, fei es des Theologen oder des Kirchen-
hiftorikers, fondern von einem herrfchenden Fernpunkte
aus grade für die chriftliche Literatur der Griechen
Tendenz und Wefen ihrer Producte zu fkizziren, fowie
das in verfchiedenen Disziplinen vielfach zerftreute Material
zur Löfung literarhiftorifcher Einzelfragen in um-
faffenden Angaben zu vermitteln im Stande wäre'.

Giefsen. G. Krüger.

Kropatscheck, Priv.-Doc. Lic. Dr. Friedr., Occam und
Luther. Bemerkungen zur Gefchichte des Autoritäts-
princips. (Beiträge zur Förderung chriftlicher Theologie
. Herausgegeben von A. Schlatter und H. Cremer.
Vierter Jahrgang. 1. Heft.) Gütersloh, C. Bertelsmann,
1900. (74 S. gr. 8.) M. 1.—

Im Anfchlufs an Seeberg's Dogmengefchichte (cf.
S. 53 u. ö.) vergleicht diefe ausdrücklich als .Skizze' bezeichnete
Studie, urfprünglich des Verf.'s Antrittsvor-
lefung, das Autoritätsprincip Occam's auf politifchem und
religiöfem Gebiete mit dem entfprechenden bei Luther.
Zunächft erfcheint die Aehnlichkeit grofs, die reinliche
Scheidung der Competenzgebiete von Staat und Kirche, i
die Befchränkung der geiftlichen Gewalt auf Predigt und
Sacramentsverwaltung unter Ausfchlufs politifcher Jurisdiction
, die Unterftellung des Papftes unter die Richtergewalt
des Kaifers, und andererfeits auf religiöfem Gebiete
bei Occam die Behauptung alleiniger Irrthumslofig-
keit der Bibel — Jdingt das nicht, als wären es Gedanken
aus Luthers Theologie?' (S. 57). Thatfächlich aber ,er-
ftreckt fich ihre Uebereinftimmung nur auf kritifche Sätze'
(S. 71). In der Ablehnung päpftlicher Uebergriffe auf
politifchem und religiöfem Gebiete find Beide einig; fobald
es fich aber um die Herausftellung des letzten autoritativen
Principes auf beiden Gebieten handelt, tritt die
Differenz zu Tage. Für Occam ift Autoritätsprincip die
Vernunft, die lex naturalis; ihr wird die Bibel unter-
ftellt, und fie hat auch als Princip der Volksfouveränität
nach naturrechtlicher Vorftellung in der Politik das letzte
Wort, eventuell mit revolutionärer Gewalt, zu fprechen.
Luther jedoch, der zwar hier und da den Spitzfindigkeiten
römifcher Juriften gegenüber mit dem klaren und
einfachen natürlichen Recht argumentirte (S. 69), hat
nicht die Vernunft bezw. die Volksfouveränität zur letzten
politifchen Autorität gemacht, fondern die Obrigkeit !
felbft, die er (Rom. 13) als ,an ihm felber recht und [
eine göttliche nützliche Ordnung' anfah, ,welche will
Gott unveracht, fondern gefurcht, geehret und gehorcht
haben' (E. A. 22, 248 cf. S. 63). Er hat in die Obrigkeit I
das Vertrauen gefetzt, dafs fie ihren gottgeordneten
Beruf treu erfüllen werde, und fo ift in der That er, und
nicht Occam, ,der Begründer der Lehre von der Weltlichkeit
des obrigkeitlichen Regiments und der Weltlichkeit
des Gehorfams gegen fie geworden' (S. 70).
Auf religiöfem Gebiete aber ift die hl. Schrift Autorität j
infofern, als fie innerlich erlebt wird im Glauben, d.h.
als fie Chriftum treibt (S. 73 f.). Damit ift die gefetz-
mäfsige Autorität der Schrift, von der Occam, durch
die Bindung an die Vernunft nicht loskam, grund-
fätzlich überwunden. So hat Luther auf beiden Gebieten
.etwas pofitiv Neues' gebracht (S. 71), und zwar
ohne Klammern und Klaufein (gegenüber der reftrin-
girenden nominaliftifchen Unterfcheidung von lex tiatu-
ralis und lex positiva, die praktifch auf ein: fo follte es
fein — aber fo ift es nun einmal, hinauslief).

Diefe Ergebnifse der frifch gefchriebenen und durch j
gefchickt ausgewählte Citate belebten Studie werden Zu-
itimmung finden; es ift Kr. entgangen, dafs Dorner in
eipem Auffatz: das Verhältnifs von Kirche und Staat
nach Occam (Stud. u. Krit. 1885 bef. S. 715 ff.) in ähn- |

lieber Weife den Unterfchied zwifchen Luther und Occam
beftimmt hatte. Im Einzelnen find manche Aeufserungen
zu fcharf pointirt worden. Das ift z. B. nicht richtig,
dafs es ,keinem der Reformatoren eingefallen wäre, fich
mit den auflöfenden Ideen des Staatsvertrags und der
Volksfouveränität einzulaufen' (S. 62). Melanchthon und
Calvin ftehen diefen Ideen nicht ganz fern (cf. Loffen:
die Lehre vom Tyrannenmord 1894), und in ihrer Folge
dringen fie in die proteftantifche Dogmatik ein (ebenda).
Ein Nachklang, zwar nicht fpeciell der Lehre von der
Volksfouveränität, wohl aber der mit ihr verbundenen
Anfchauung von den obrigkeitlichen Pflichten ift es z. B.,
wenn Melanchthon die Ketzerbeftrafung mit dem Naturrecht
deckt: mandata de per iuris et manifesta idola co-
lentibus et de magicis sunt leges naturae (C. R. XII,
S. 696 f.) — Die Bahnbrecherarbeit, die der Nominalismus
der Reformation geleiftet hat — und darauf hat gerade
Seeberg immer wieder hingewiefen — kommt bei Kr.
nicht zu ihrem Rechte (cf. bef. das fcharfe Urtheil S. 71
Z. 8—10 v. u.), doch mag das an dem Skizzenhaften der
Studie liegen, der die Herausarbeitung des Gegenfatzes
Hauptzweck war. Man darf die Frage aufwerfen, ob nicht
Luther unmittelbar in der Herausbildung feines Schriftprin-
eips von Occam beeinflufst wurde? Die Occam'fche Auslegung
des Auguftinwortes, er glaube dem Evangelium um
der Kirche willen, ähnelt fehr der von Luther vorgetragenen
(cf. Weim. Ausg. II S. 430 bef. die Worte: Ecclcsiam hoc
loco nec papam nec Romam aeeipit, sed per tptum orbem
diffusum universalem ecelesiam, dazu S. 65 bei Kr.). Nur
weil Luther (wie ich anderwärts zu zeigen haben werde),
im Uebrigen keine Kenntnifs der politifchen Schriften
Occam's verräth, jenes Auguftinwort aber in verfchie-
denfter Interpretation in der damaligen Publiciftik immer
wieder begegnet, möchte ich jene Frage verneinen.
Lieber die Frage nach der Bedeutung des Nominalismus
für Luther ift damit natürlich nichts entfehieden.

Giefsen. W. Köhler.

Vogel, Th., Goethe's Selbstzeugnisse über seine Stellung zur
Religion und zu religiös-kirchlichen Fragen. In zeitlicher
Folge zufammengeftellt. Zweite Auflage. Leipzig, B. G.
Teubner, 1900. (VI, 242 S. 8.) M. 2.80; geb. M. 3.40

Es ift eine höchft dankenswerthe Zufammenftellung,
die wir in dem vorliegenden, 1888 in 1. und nun in 2.
Auflage erfchienenen Büchlein befitzen. Mit Recht fagt
der Verfaffer in der Vorrede, fo werth voll die verfchiedenen
Arbeiten über Goethe's Stellung zur Religion feien, werde
doch mancher auch gern einmal zu einer Sammlung
greifen, .welche, aller Erklärungen, Beurtheilungen und
fonftiger Zwifchenreden fich enthaltend, lediglich Goethe
fprechen läfst'. Nur auf diefem Wege kann man fich ja
ein eigenes Urtheil bilden. Auch laffen fich an der Hand
folcher Sammlung die Urtheile anderer leicht nachprüfen.—
Die zufammengeftellten Ausfprüche (es find etwa 900)
find unter verfchiedene Rubriken gebracht. Der erfte
Theil, der aus 9 Capiteln befteht und die Stellung des
Dichters zur Religion als folcher beleuchtet, enthält am
Schlufse eine Art Zufammenfaffung unter dem Titel: ,Des
Dichters Chriltenthum für den Privatgebrauch'. Der zweite
Theil befteht aus 6 Capiteln und enthält Ausfprüche über
beftimmte religiös-kirchliche Fragen, wie Offenbarung,
Wunder, Chriftus, Urchriftenthum, Kirche. In den einzelnen
Capiteln find die Stücke chronologifch geordnet, und es
ift bei jedem die Jahrzahl wie der Fundort genau angegeben
, wobei nach der erften Hempel'fchen Ausgabe
citirt wird. So kann man die Entwicklung des Dichters
genau verfolgen und jeden Ausfpruch, an dem man
näheres Intereffe nimmt, im Zufammenhange nachlefen.
Vollftändigkeit ift, wie der Verfaffer fagt, ,nach Möglichkeit
, aber nicht ängftlich angeftrebt worden'. In der That
hat Chriftüeb in der Chriftl. Welt eine dankenswerthe