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Ausgabe:

1898

Spalte:

122-123

Autor/Hrsg.:

Kretschmer, Ernst

Titel/Untertitel:

Das christliche Persönlichkeitsideal 1898

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literatlirzeitung. 1898. Nr. 4.

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Aus diefem .fruchtbaren Kernpunkt' wächft die ge- diefe ift der chriftocentrifche, für jene der kosmo- und
fammte Dogmatik als lebensvoller Organismus chriftlicher j anthropocentrifche Gefichtspunkt mafsgebend. Zur Ver-
Heilswahrheit hervor. In dem chriftocentrifchen Heils- , hütung von Conflicten zwifchen beiden weifs auch der
gedanken bietet fich ,der Schlüffel für das Verftändnifs | Verf. nur ,beiderfeitige Selbftbefcheidung und faubere
aller Einzellehren' dar. — In den ferneren Darlegungen ; Grenzregulirung' als Mittel anzugeben. (S. 411). Als
kommen die bekannten Prolegomenafragen nach Infpi- i ,entfcheidender methodifcher Gefichtspunkt' für die luthe-
ration, Wunder, Weisfagung, heiliger Schrift, Dogma, : rifche Dogmatik wird endlich die ,ftete innere Verknüpf-
fymbolifchen Büchern, kirchlicher Auctorität, fubjectivem ; ung des Real- und Idealprincips, der chriftocentrifchen
Glauben u. a. zur Sprache. Hier weifs nun der Verf. | Heilsthatfache (Chriftus für uns) und der pneumatocen-
manches zu vereinigen, was anderen unvereinbar erfcheint. ; trifchen Heilserfahrung (Chriftus in uns)' gefordert (S.447).
So erklärt er fich gegen die Definition der Wunder als ; Und nun ift die Beurtheilung der einzelnen Glaubensfätze
Durchbrechung der Naturgefetze (S. 274), hält aber zugleich I abhängig von dem .Nachweis ihres gliedlichen (organi-
alle .Einzelwunder' für glaubhaft wegen ihres Zufammen- 1 fchen) Zufammenhangs mit dem Heilsprincip in Chrifto
hanges mit dem ,in dem Gottmenfchen gipfelnden j und mit der Heilserfahrung der Chriften' (S. 453). Der
Centraiwunder' (S. 276 t). ,Die theologifche und kritifche .methodifche Nachweis ihrer Schriftmäfsigkeit, ihrer kirch-
Erforfchung der einzelnen Schriften der Bibel' will er | lich-confeffionellen Berechtigung und ihrer Haltbarkeit
,vom dogmatifchen Standpunkt aus nicht blofs freigeben, | gegenüber dem aufserkirchlichen Gegenfatz' hat aber nur
fondern fordern . . . ., in der zuverfichtlichen Ueberzeug- : den Sinn eines ,Controlverfahrens' (S. 464).
ung, dafs jenes Gold göttlicher Heilswahrheit im Feuer ! Bonn. O Ritfehl

der Kritik fich erproben und umfo glänzender in feiner ^__'

Echtheit zu Tage treten wird' (S. 283). Dennoch gilt

ihm das kirchliche Dogma, das doch ganz gewifs nicht Kretschmer, Pfr., Ernft, Das christliche Persönlichkeits-

eine kritifche, fondern eine alle wirklich hiftorifche Kritik | ideal oder der Kern der chriftlichen Ethik auf psycho-
ablehnende Verwerthung der hl. Schrift vorausfetzt als I logifcher Grundlage. Ein Vernich. Leipzig, Dörffling
eine zwar niemals abgefchloffene, aber doch in allem „ py-,„uq ,o„. nu aA c 01 *
Wefentiichen adaequate Ausprägung des Inhalts der hei- & 1<ranke l897- (I", & S. gr. 8.) M. 1.60

Ilgen Schrift. Und die kirchlichen Bekenntnifsfchriften Wenn der Verf. den Anfpruch erhöbe, eine Reihe

bezeichnet er zunächft als norma normata, um dann doch j von ethifchen Betrachtungen in allgemein verftändlicher
das zugleich zugeftandene quataius in ,ein entfehiedenes , Ausführung nach gewiffen Hauptgefichtspunkten geordnet
quid- zu verwandeln (S. 311). Dafs nun der Verf. felbft darzubieten, fo würde man fein Schriftchen als eine
die Subftanz des überlieferten Dogmas mit dem Princip j liebenswürdige und wohlgemeinte populäre Leiftung der
der wiffenfehaftlichen Forfchung zu harmonifiren weifs | Paftoraltheologie charakterifiren dürfen. Da er aber von
und feine Ausgleichsformeln mit voller Ueberzeugung , ,wiffenfchaftlicher Geftaltung', .methodifcher Verarbeitung
vertreten kann, mag bei feiner theologifchen Eigenart j des gegebenen, in Schrift und Bekenntnifs niedergelegten
eine individuelle Berechtigung haben. Aber mit mir ] ethifchen Stoffes' redet, den er ,fyftematifch' behandeln
werden wohl noch manche andere ihm hierin nicht zu will, da er insbefondere eine .Neugeftaltung' der Tugendfolgen
vermögen, fondern den Eindruck haben, dafs, : lehre erftrebt, fo ift an feine Arbeit ein ftrengerer Maafs-
was er mit der einen Hand der kritifchen Wiffenfchaft ftab anzulegen. Die w i ff en f chaftlic he Behandlung
an Zugeftändnifsen giebt, mit der andern Hand alsbald j der chriltlichen Tugendlehre hat der Verf. jedenfalls
wieder zurückgenommen wird. In der Sache alfo fleht er , durch feinen ,Verfuch' in keiner Weife gefördert,
trotz feiner fcharfen und treffenden Kritik des ,Ortho- Seine fyftematifche Aufgabe fleht der Verf. darin

doxismus' doch ganz auf der Seite diefer Richtung, deren ,die ganze Mannigfaltigkeit chriftlicher Tugenden oder
gegenwärtig mafsgebende Vertreter in ihrer hierarchifchen Pflichten auf ein einheitliches Princip, auf eine Grund-
und wiffenfehaftsfeheuen Tendenz nur viel weniger vor- 1 wurzel zurückzuführen und in möglich'ft einfacher, fachnehm
, weniger feinfinnig, weniger gebildet, weniger weit- I lieh, d. h. hier pfychologifch richtiger und formell d. h.
herzig find, als Alexander v. Oeningen. j logifch klarer Weife daraus abzuleiten' (S. 7). Die

In der Auseinanderfetzung mit anderen ift es dem i .pfychologifche Grundlegung' befchränkt fich aber auf
Verf. eigen, dafs er ganz in der Art der Vermittlungs- eine .Analyfe' der Begriffe Liebe, Ehrfurcht und Ver-
theologie in der Mitte diefes Jahrhunderts einen Gegen- trauen, in deren Zufammenftellung Luther ,den Sinn feines
fatz zwifchen den ihm fremden Anflehten und Richtungen . Herrn und Heilands .... in ebenfo biblifcher wie bün-
feflftellt oder conftruirt und fich zwifchen deffen Extremen, diger Form zum Ausdruck gebracht hat' (S. 10 f). ,Die
indem er fich zugleich die beiderfeits vorhandenen ,Wahr- Liebe als Gefühl des befonderen Werths, den eine
heitsmomente' aneignet, eine .gefunde' Mittelftrafse bahnt. Perfon für mich hat', fetzt die .Achtung als das Gefühl
So verfährt er im 2. Cap. des 1. Abfchnitts, fo auch in des allgemeinen objectiven Werths derfelben' voraus,
dem methodologifchen 2. Abfchnitt. Hier find es ,der j und beide .finden ihren Widerfchein im Vertrauen'. Darin
fpeculativ-dogmatiftifche Monismus' und der .fkeptifch- > befteht ihre enge Zufammengehörigkeit. Demnach
kritieiftifche Dualismus', die einander gegenübergeftellt , werden nun in der ,fyftematifchen Darftellung' oder ,dem
werden. Um zwifchen ihnen nun den rechten Weg zu | ethifchen Aufbau der chriftlichen Tugendlehre' die Gefinden
, poftulirt der Verf. ein der Eigenart des Unter- ; finnungen der Liebe und Achtung (refp. Hochachtung,
fuchungsobjects entfprechendes methodifch begründetes 1 Verehrung, Ehrfurcht) im Verhältnifs zu Gott, zum Neben-
Erkenntnifs- oder Idealprincip und findet es für die Dog- menfehen, zur eignen Perfon und zur Natur unter reich-
matik in dem Glauben, ohne den ,das Chriftenthum als licher Verwerthung biblifcher Belegftellen, insbefondere
gott-menfehlich geoffenbarte Heilsreligion' nicht zum aus dem NT. entwickelt. Sonft beruft fich der Verf.
.Gegenftand methodifch begründeten Wiffens' werden ! nur auf den Katechismus Luthers, d. h. auf den kleinen
kann (S. 370). Der Zweck der Wiffenfchaft überhaupt Katechismus. Hätte er doch wenigftens auch noch den
ift die fyftematifche Darlegung des ,gefetzmäfsigen (cau- s grofsen Katechismus zu Rathe gezogen! Dann hätte er
falcn)Zufammenhangsundderzielftrebigen(teleologifchen) wohl kaum den Satz gefchrieben: .Ehrfurcht gebührt
Bewegung' der gegebenen und methodifch geprüften Er- nächft Gott allein den Majeftäten' (S. 13). Welchen
fahrungsthatfachen (S. 396). Im Bereich der Geiftes- Majeftäten, frage ich. Auch dem türkifchen Sultan, dem
wiffenfehaften bilden aber den Höhepunkt,die Plulofophie Schah von Perfien, dem Kaifer von China? Aus den
als univerfelle Geifteswiffenfchaft' und die mit ihr in Erlauterungen des gr. Kat. zum 4. Gebot (< 105 ff.)
einem gewiffen Verwandtfchaftsverhältnifs flehende,Dog- hatte der Verf. fehen können, dafs Luther nächft Gott
matik als theologifche Glaubenswiffenfchaft' (S. 397). Für | vielmehr Vater und Mutter nennt, denen Ehrerbietung