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Ausgabe:

1898 Nr. 1

Spalte:

25-27

Autor/Hrsg.:

Gallwitz, Hans

Titel/Untertitel:

Eine heilige allgemeine christliche Kirche. Zwei Aufsätze. I. u. II 1898

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 1.

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qualitative Befchaffenheit der in der Körperwelt wirken- Zwang, den fie ausübt, aus der Dreffur, die fie an den

den Kräfte enthalte. Diefe felbft können, wenn auch ihre Gläubigen vollzieht. Religiöfc Lebenskräfte find wirk-

Wirkungcn mechanifch erklärt werden, phyfikalifchcr, 1 fam; wo find fie zu fuchen?

chemifchcr oder auch pfychifcher Art fein. Kbenfo- j Der Vcrfaffer macht in drei gröfseren Abfchnitten
wenig laffe fich die Behauptung aufrecht erhalten, dafs vor Allem geltend den mit äufserfter Confequenz practifch
bei der Annahme einer Wirkung des Körpers auf die durchgeführten Anfpruch der römifchen Kirche auf Ka-
Seele Energie verfchwindc und im umgekehrten Fall tholicität. Die Einheit der Kirche unter dem Statthalter
Energie aus Nichts entftehe. Die potentielle Energie, in Chrifti, die ausfchliefsliche Berechtigung der Kirche, ihre
welche die kinetifche fich beim Aufhören einer Bewegung Macht über die Menfchheit, die unbedingte Siegeszu4
verwandeln foll, laffe fich ebenfowohl in feelifchen verficht der Kirche, — das Alles lebt in dem Bewufst-
Kräften finden, als in anderen hypothetifch angenomme- fein jedes Katholiken. Mit Pietät fieht er auf das ehr-
nen Zufländen der Körper. Die feelifchen Zuftändc fetzen würdige Alter der Kirche, die das repräfentirt, quod
fich dann mit ihren Wirkungen auf den Körper wieder in nbique, quod Semper, quod ab omuibus creditum est; in
lebendige Kraft um. Die Beweiskraft diefer Ausführungen den Reliquien und den Heiligen tritt ihm die Vergangen-
fucht der Verf. noch dadurch zu verftärken, dafs er die heit der Jahrtaufende als religiöfe Macht in die Gegen-
Auflöfung des Begriffs der Materie in ein Syftem von wart hinein; die Kirche beruhigt fein Gemüth durch
immateriellen Kräften, die er fchon in feiner Metaphyfik ftrengen Ausfchlufs alles Problematifchen, durch die von
(l Bd. 1S94) vertrat, auch für die Möglichkeit einer Wech- den Sacramenten und Sacramentalien greifbar verbürgte
felwirkung zwifchen Leib und Seele nutzbar macht. Auf Verficherung, über alles, was das Menfchcnherz be-
die von ähnlichen Gefichtspunkten getragenen Ausfüh- wegt, unbedingt Herrin zu fein. Durch die feften Ord-
rungen des dritten Capitels, welches den .pofitiven Nach- nungen der Kirche für das bürgerliche Leben in der
weis für die Nothwendigkeit der Annahme einer Wech- täglichen Mcffe, in den Faftcngeboten, in der Gdicdc-
felwirkung' geben will, kann hier nicht mehr eingegangen rung des Volkskörpers in kirchlichen Vereinen, in der
werden. ; Erziehung Aller zur Kirchlichkeit und Opferwilligkeit
Ein angreifbarer Punkt in der umfichtigen Abhand- wird fort und fort das Bewufstfein geweckt, als Glied
lung ift der Kraftbegriff des Verf.'s überhaupt und die , einer Kirche anzugehören, die zeitliches und ewiges Heil
EntYchiedeuheit, mit welcher er von befonderen ,Kräfter.' garantirt. Bei der Erörterung aller diefer Punkte werden
neben dem anorganifchen, organifchen und pfychifchen Vergleiche mit der evangelifchen Kirche gezogen, die
Gefchehen redet. Der darin liegende Anthropomorphismus zum grofsen Theil für diefe wenig fchmeichelhaft find;
ift ihm nicht zum Bewufstfein gekommen. Ph'nige Mal man giebt jedoch dem Verfaffer um fo williger in feinen
werden auch angefichts der zur Discuffion flehenden Ausführungen recht, als er es nicht unterläfst, die Fac-
Frage doch zu weitgehende Ausdrücke gebraucht. Wie toren anzuführen, die eine beffere Zukunft anzubahnen
man für die Hypothefe des Parallelismus den Charakter gee ignet find. Dazu rechnen wir freilich nicht die Thä-
einer empirifchen Theorie in Anfpruch nehmen kann, tigkeit der Evangelifchen Allianz, die auch nicht, wie
erfcheint ihm .geradezu unbegreiflich' (S. 112). Ueber der Verfaffer meint, einen Zufammenfchlufs evangelifcher
die Annahme einer mechanifchen Entftehung verwickelter Landeskirchen erftrebt, fondern nur eine Verbindung
Wilienshandlungen fagt er: .Man redet fich felbft nur ein, aller bewufsten Chriften. Noch weniger können wir den
dafs man fo etwas glaubt' (S. 136). Die Theorie der Vorfchlag billigen, eine Art Missa pro defunetis in der
Wech felwirkung foll fich mit den zu erklärenden Er- evangelifchen Kirche einzuführen; die Gründe, die der
feheinungen in der ,allerfchönften Uebercinftimmung be- Verfaffer dafür beibringt, fcheinen auf Verkennung des
finden' (S. 134). In mancher das Strittige als felbflvcr- Wefens und der Erhörbarkeit der Fürbitte zu be-
ftändlich hinftellenden Wendung verräth fich vielleicht 1 ruhen. Auch die Macht der von ihm angeführten rcli-
nur das Mitwirken eines Factors, den der Verf. fich nicht I giöfen Factoren in der römifchen Kirche bezweifeln wir
deutlich genug zum Bewufstfein bringt: die innere Noth- nicht; wir vermiffen nur die Beurtheilung diefer Factoren
wendigkeit des an das Schema von Urfachc und Wirkung auf ihre Reinheit und Wahrheit, und die Betonung,
gebundenen menfehlichen Denkens, das fich dagegen dafs die evangelifche Kirche principiell weder die Geverwahrt
, aus dem die ganze Welt umfpannenden Caufal- fchichte vom Dogma corrigiren läfst, noch irgend einem
zufammenhang allein das Verhältnifs von Leib und Seele religiöfen Factor das Exiftenzrecht giebt, der mit der
herausfallen zu laffen. gefchichtlichen Wahrheit (bezw. Wahrhaftigkeit) in WiderRiedlingen
a/D. Th. Elfcnhans. ^A^.. ^ . .. . . .

_B ' _ __ Auf die kirchliche Disciplin lenkt der zweite

fehr beachtenswerthe Auffatz untere Aufmerkfamkcit

Gallwitz, Supeiint. Hans, Eine heilige allgemeine Christ- der die Evangelifche Kirchenzucht behandelt. Der

liehe Kirche. Zwei Auffätze. I. Welches find die re- ] Widerfpruch wird uns vor Augen geftellt zwifchen der

ligiöfen Lebenskräfte des Katholicismus ? II. Evan- | Predigt des Evangeliums mit ihren reinen Forderungen und

eelifchc Kirchenzucht. Göttingen, Vandenhoeck & j 2^^S!5C^1IaiK?niS!?30*» dl> Wrchliche Ehren weder den

0 n /ft,c „rjq M 1 ?n ! r ,P . Gleichgültigen und Unbarmherzigen, noch den

Ruprecht, 1896. (69 S. gr. 8.) M. 1.20 flttllch Anruchj verfa t Dje griechiLhe Kirche ift

Zwei fcheinbar difparaten Auffätzen giebt der Titel
der Brofchüre die Ueberfchrift; der erfte, bereits in den

etnft an dem Zank über dogmatifche I.ehrfätzc zu Grunde
gegangen gegenüber dem Islam, welcher damals dem

Preufsifchen Jahrbüchern 1895 im Aprilheft veröffent- Morgenlande eine frifchere und entfchloffenere Sittlichkeit
licht, beantwortet die Frage: .Welches find die religiöfen gebracht hat, als fie ZU geben vermochte. Das ift künf-
Lebenskräfte des Katholicismus?' Der zweite verbreitet tigen Gefchlechtern und zumal den Deutfchen, den Griefich
über die .Evangelifche Kirchenzucht'. Der Inhalt ; chen der Neuzeit, zum Vorbild gefchehen'. V ier Merkmale
jedoch rechtfertigt den Titel; von den drei Prädikaten der kirchlichen Orthodoxie werden aufgeftellt, die an
der chriftlichen Kirche kommen das erfte und dritte im jedem Gliede der evangelifchen Kirche fich finden muffen:
erften Auffatz, das zweite im zweiten Auffatz zur Ver- das Bekenntnifs zu Chriftus als dem Herrn, Keufchheit,
werthung. ,. , - , .. • : Mafsigkeit, Bruderliebe. ,Unfere Zeit ruft nach Wahr-

Der Verfaffer verkennt nicht die tiefen Schaden der nattigkcit im öffentlichen Leben. Warum diejenigen mit
römifchen Kirche und den principiellen Selbftmord, den aufseren Mitteln in der Kirche halten, denen chruftlicher
fie durch das Infallibilitätsdogma begangen hat; gleich- Glaube und chriftliche Sittlichkeit Thorheit find1 Unfere
wohl erklärt er die grofse Macht der Kirche nicht, oder ■ Zeit erftrebt für die Perfönlichkeit ein möglich!* grofses
nur zum kleinen Theil, aus ihrer Organifation, aus dem | Maafs von Freiheit. Warum nicht dem Einzelnen Frei-