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Ausgabe:

1898

Spalte:

398-401

Autor/Hrsg.:

Barth, Paul

Titel/Untertitel:

Die Philosophie der Geschichte als Sociologie. I. Teil: Einleitung und kritische Uebersicht 1898

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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bum fecisse (36, 265); Nunc quod praecipuum est, agamus:
nihil hac de re a ine proditum, nisi quod Dens scripturcie
oraculis nobis omnibus clare dictat (270); ita secure lu-
dit [Pighius], ac si verbulo 11110 totam Pauli doctnnam
abolere in promptu esset' (282).

Wenn nun aber dem Verf. die Auctorität der hl.
Schrift für Calvin's Praedeftinatianismus weniger maafs-
gebend erfcheint, als das feit 1537 hervortretende Be-
ftreben, Gottes Souveränität und glona alles unterzuordnen
, fo möchte ich vielmehr meinen, dafs er lieh auch
zur Vertretung diefer Auffaffung nur durch befhmmte
Bibelworte bewogen gefehen hat. Aber freilich — darin
hat Scheibe Recht — Calvin treibt keine nach unfe-
ren Maafsftäben exaete Bibelerklärung, fondern er lieft
in der Weife feiner Zeitgenoffen und ihrer Vorganger
aus der hl. Schrift heraus, was feinen Vorausfetzungen
entfpricht. Daher ift weiter zu fragen, woher denn diefe
Vorausfetzungen flammen. Und hier hebt Scheibe aufser
dem Einflufs Luther's und anderer namentlich Calvins
weitgehende Uebereinftimmung mit Bucer hervor, den
jener ja auch felbft einmal neben Auguftin und Luther
ausdrücklich als feinen Vorgänger anerkennt (C. R- 37»
259). Immerhin icheint mir trotz jener dankenswerthen .
Nachweifungen des Verf. Auguflin's Einflufs auf Calvin
viel bedeutender als derjenige Bucer's gewefen zu fem.
Merkwürdiger Weife aber will Scheibe von Calvin s Abhängigkeit
von Auguflin fo gut wie gar nichts wiffen
Und doch hat Calvin Niemanden auch nur annähernd
fo oft mit Beifall citirt, als gerade Auguftin. Davon erhält
man einen fehr deutlichen Eindruck, wenn man einmal
die Nachweifungen des Index theologicus, in dem
auf Auguftin faft 7 Seiten fallen (C. R. 50, iseff.), untereinander
und mit denen des Index histoncus vergleicht.
Aber man beachte auch, mit welcher Plerophorie der
Zuftimmung Calvin fleh gerade für feine Praedeftinations-
lehre immer wieder auf Auguftin beruft: Si ex Augustino
integrum volumen contexere libeat, lectoribus ostendere
promptum esset, mihi nonnisi ejus verbis opus esse;
sed cos prolixitate onerare nolo. (C. R. 30, 094). Porro
Augustinus ipse adeo totus noster est, ut si mihi con-
fessio scribenda sit, ex ejus saiptis contextam proferre,
abunde mihi sufficiat. Sed ne in praesentia nimium si/u
prolixus, tribus aut quatuor locis contentus ero, ex quibus
constet, ne uno quidem apice ine ab ipso differre. Ex
continua deinde operis serie plenius constabit, quam solide
omni ex parte mihi sujfragetur. (36, 2G6). Neque
Augustinum ideo in praesentia addueo testein, quod ejus
auetoritate pugnem, sed quia ejus verbis aptiora non
suppetunt, quibus evangelistae mentem exprimam (274).
Sic autem ex verbo Dei Calvinus docet, Augustinum
piosque alios scriptores secutus (37, 200; vgl. auch 2G2. 263).
Die Frage nach der Abhängigkeit Calvin's von Auguftin
hätte alfo wohl befondere Aufmerkfamkeit verdient. Der
Verf. aber fcheint (S. 16) zu meinen, dafs überhaupt der
Einflufs von Zeitgenoffen höher anzufchlagen fei, als der
von zeitlich weit entfernten Perfonen. Und doch find
die gröfsten Männer der Religion und auch der Theologie
vielmehr durch congeniale Perfonen der Vergangenheit
, als durch ältere Mitlebende in ihrer Art zu empfinden
und zu denken beftimmt worden. Der Verf.
weift ferner auf die Differenz zwifchen Calvin und
Auguftin hin, dafs diefer Adams Fall auf die freie Ent-
fcheidung des Menfchen zurückführe und ihn von Gott
nur vorausgewufst fein laffe. Aber auch Calvin, der
freilich in der Regel diefe Frage nicht näher berührt,
leitet einmal, und zwar auch wieder unter nachträglicher
Berufung auf Auguftin (C. R. 34, 204), den Sündenfall
Adams direct von feinem freien Willen ab, wenn er
fagt: ,Neque eiiim negamus, liberi arbitrii conditum fuisse
hominem, qui et sana mentis intelligentia et rectiludine
voluntatis praeditus fuerit. Nunc quidem captivum teneri
sub peccati Servitute arbitrium nostrum asserimus. Sed
unde id? nisi quia libero arbitrio abusus est Adam, cum

j haberet (263). Und andererfeits bezeichnen die calvini-
i fchen Formeln: nonnisi sciente atque ita ordinante Deo
cecidit Adam (C. R. 36, 314); cadit igitur homo Dei
I Providentia sie ordinante, sed suo vitio cadit (29, 374);

Dens sciens et volens hominem ipsum cadere passus
I est (36, 315) zu der auguftinifchen Formel: Deo qui-
I dem praesciente quid esset facturus injuste; praesciente
tarnen, non ad hoc cogente (de corrept. et gratia
XII, 37) doch nur einen recht unerheblichen Gegenfatz,
da ja auch Calvin von einem cogere nichts wiffen will.
Ueberdies fcheint Calvin felbft diefen Gegenfatz als
folchen nicht einmal empfunden zu haben, da er
Auguflin's Begriff von der göttlichen Zulaffung (vgl. z. B.
de dono pers. VI, 12; Nihil euim fit, nisi quod aut ipse
[Dens] fiacit aut fieri ipse permittit) nur als gelegentliche
Accommodation an den üblichen Sprachgebrauch beurtheilt
und dazu bemerkt: quum pressius insistit et magis exaete
rein examinat, nullo modo patitur, in locum actionis per-
missionem substitui (C. R. 36, 359). Mag nun aber auch
Calvin ein mittlerer Standpunkt zwifchen der infralapsa-
rifchen und der fupralapsarifchen Anficht zuzufchreiben
fein, wie denn auch Scheibe Calvin's Uebereinftimmung
theils mit der einen (S. 87), theils mit der anderen (S. 74.
90) hervorhebt: die hierdurch bedingten thatfächlichen
Abweichungen von Auguflin find Calvin jedenfalls nicht
bewufst gewefen und beweifen daher auch nichts gegen
den fehr bedeutenden Einflufs, den jener auf Calvin's
Auffaffung von der Praedeftination geübt hat. Vor allem
herrfcht bei beiden diefelbe religiöfe Stimmung gegenüber
diefem Problem, und bis in viele Einzelheiten der
Lehre felbft hinein hört man Calvin nur wieder augufti-
nifche Gedanken vortragen. Um nur auf eines hinzuweifen
, wofür ja der Verf. ein befonders lebhaftes Inter-
effe hat, der Gottesbegriff Calvin's ift gerade, foweit er
mit demjenigen Luther's nicht übereinftimmt, auf eine
intime Abhängigkeit von dem auguftinifchen Gottesbegriff
zu beurtheilen.

Damit ift nun freilich fchon ein Gegenftand berührt
, der in dem zweiten Theile der vorliegenden Schrift
erörtert wird. In diefem zeigt der Verf., ,welche Stellung
des Reformators praedeftinatianifche Gedanken in deffen
theologifchem Syftem und religiöfer Gefammtanfchauung
einnehmen'. Dem hier zunächft gewonnenen Ergebnifs
ftimme ich zu, dafs die Praedeftinationslehre nicht, wie
Schweizer gemeint hatte, die Centrallehre in Calvin's
Syftem, wohl aber ein unentbehrlicher Beftandtheil der
chriftlichen Glaubenslehre im Sinne Calvin's ift. Endlich
führt die Erörterung des religiöfen Motivs, ,aus dem in
letzter Linie die Befonderheit Calvin's bei Vertretung
der Praedeftinationslehre fleh erklärt', auf die fchon erwähnte
Faffung des Gottesbegriffs, deffen Unterfchied von
demjenigen Luther's der Verf. gegen A. Ritfehl feftftellt.
Dennoch wird man, wenn man Luther's Gedanken von
dem Dens revelatus zum Maafsftab der Beurtheilung
nimmt, Calvin's Betheuerungen, auf die fleh der Verf.
ftützt, das Gott nicht willkürlich, fondern nur gerecht
aber aus unbekannten Gründen handle, wenn er fowohl
die electio als auch die reprobatio lediglich als Mittel zu
feiner gloria wolle und wirke, nicht als einen Beweis
dafür gelten laffen können, dafs er Gottes Willen nicht
als grundlofe Willkür vorftellen lehre.

Bonn- O. Ritfeh].

Barth, Priv.-Doz. Dr. Paul, Die Philosophie der Geschichte
als Sociologie. I.Teil: Einleitung und kritifche Ueber-
ficht. Leipzig, O. R. Reisland, 1897. (XVI, 396S.gr. 8.)

M. 8.—

Je mehr alle Wiffenfchaften vom menfehlichen Geiftes-
lcben fleh auf eine entwickelungsgefchichtliche und vergleichende
Methode begründen, um fo brennender wird
die trage nach den Pnncipien der Auffaffung und Beur-