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Ausgabe:

1897 Nr. 4

Spalte:

115-120

Autor/Hrsg.:

Dorner, August

Titel/Untertitel:

Das menschliche Handeln. Philosophische Ethik 1897

Rezensent:

Gottschick, Johannes

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115 Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 4. 116

lung diefer Frage geftaltet fich in Kähler's Schrift zu
einer Auseinanderfetzung mit Herrmann, welcher vor
Kurzem über die „gründliche Befprechung", die Kahler
feiner Pofition gewidmet, das Urtheil gefällt hat: „Trotz
der Differenzen, die beliehen bleiben und die für mich fo
wenig wie für Kahler gleichgiltig werden können, glaube
ich doch zu fehen, dafs wir in dem, was uns das Wichtigfte
ift, uns ohne Mühe zufammen finden werden." In der
That, der Consensus zwifchen beiden Theologen ift ein
weitgehender, und was sie verbindet ift fchliefslich ftärker
und fällt mehr ins Gewicht, als was fie trennt. Zu letzterem
gehört u. a. die durch Herrmann confequenter durchgeführte
Unterfcheidung zwifchen dem Grund und dem Inhalt
des Glaubens, auch wohl die verfchieden orientirte
und begründete Stellung zur heiligen Schrift. Dafs aufser-
dem in dem fchwebenden Streit manche Punkte noch
nicht zur vollen Klarheit gebracht worden find, wird kein
unbefangener Lefer leugnen können: fo ift der auch in
Kählers grofsem fyftematifchem Werk grundlegende Begriff
des „Uebergefchichtlichen" dem Ref. noch keineswegs
eine durchfichtige Gröfse; anderfeits ift es ihm
fehr begreiflich, dafs die Ausführungen Herrmann's über
die Art der Wirkfamkeit des Herrn, über das Ueber-
wältigtwerden der Gläubigen durch Chriftus, Kähler nicht
durchaus befriedigen, denn diefe Aeufserungen laffen eine
verfchiedenartige Deutung zu und haben thatfächlich auch
eine fehr mannigfaltige Erklärung gefunden. Hoffentlich
wird die Erwiderung Herrmann's nicht ausbleiben; möge
fie dazu beitragen, die in diefen Seiten behandelte Frage
auf einen fchärferen und allgemein verftändlicheren Ausdruck
zu bringen!

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Dorner, Prof. D. Dr. A., Das menschliche Handeln. Philo-
fophifche Ethik. Berlin, Mitfcher & Röftell, 1895.
(XII, 737 S. gr. 8.) M. 12.—

Eine philofophifche Ethik von einem aktiven Theologen
ift wohl feit Schleiermacher nicht dagewefen, vielleicht
, weil diejenigen Gedanken Schl's. die auf die Bedingtheit
des höheren geiftigen Lebens durch Gefchichte
und Gemeinfchaft gehen, über ihn hinausgeführt haben.
Dorner aber ift mit Schi, der Meinung, dafs eine theologifche
Ethik nur das fittliche Leben, das durch die philofophifche
Ethik fchon conftruirt ift, auch noch aus dem
religiöfen Gefichtspunkt betrachten, nicht aber inhaltlich
die übrigen fittlichen Gebiete modificiren könne. Auch
wenn man andrer Anficht ift, weil folche Abftufung der
philofophifchen und der theologifchen Ethik der Bedeutung
nicht gerecht wird, welche Chriftus und der Beftand feiner
Gemeinde für Vorhandenfein und Wirkungskraft des Betten
an den heut mit dem Anfpruch auf allgemeine Anerkennung
auftretenden Idealen haben, fo kann man doch
des D.'fchen Buches fich in der Hoffnung freuen, dafs
die überall fich offenbarende philofophifche Stimmung des
Verfaffers, feine Freiheit von theologifcher Voreingenommenheit
, fein Gegenfatz zu allem theologifchen und
kirchlichen Pofitivismus feinem von ausgebreiteter Be-
lefenheit zeugenden, auf alle modernen Fragen forgfältig
eingehenden, klar gefchriebenen Werke in weiteren Kreifen
Zugang verfchaffen und manchem guten Worte, das er
in der Bekämpfung der in der modernen Ethik fo häufigen
naturaliftifchen und antireligiöfen Anfchauungen und in
der Fortfetzung der von Kant, Fichte, Schleiermacher
vertretenen ethifchen Gefammtanfchauung geredet hat,
willigere Aufnahme bereiten werde.

Von befonderem Intereffe find gegenwärtig, wo
Problem geworden, was Ritfchl. noch als Vorausfetzung
der Theologie behandeln konnte, die ethifchen Prole-
gomenenfragen. D. hat ihnen weit über den dritten Theil
feines Buches gewidmet, indem er in einer Phänomenologie
des fittlichen Bewufstfeins das fittliche Ideal aus der

Analyfe der thatfächlichen individuellen und gefchicht-
lichen Entwickelung des Sittlichen ableitet und dann
feine metaphyfifchen und religiöfen Vorausfetzungen be-
fpricht, S. 24—286.

Zwei formale, individual-psychologifche Abfchnitte,
die von der Entwicklung der ethifchen Intelligenz und
des ethifchen Gefühls und Willens handeln, follen den
Erweis bringen, dafs das Sittliche als Bewufstfein und
thätiger Wille nicht auf dem Wege eines von der Intelligenz
blos unterftützten psychifchen Naturproceffes aus
der empirifchen Menfchennatur mit ihren mannigfachen
Trieben entfprungen fein kann, fondern nur aus einer
in jedem Einzelnen vorhandenen, wenn auch entwicklungsfähigen
Vernunftanlage. Dies leidet für D. eigentlich
fchon die Analyfe der unmittelbaren Form, in der fich
die fittliche Intelligenz bei der Beurtheilung einzelner
Fälle geltend macht. Die Unbedingtheit des Soll fchliefst
ihm feine Erklärung aus der erfahrungsmäfsigen Steigerung
des Bewufstfeins vom Räthlichen und aus dem Gebot
der Gemeinfchaft, die häufige Neuheit des unmittelbaren
fittlichen Urtheils feine Herkunft aus der Sitte aus.
Dafs es ihm eine vom begleitenden Gefühl verfchiedene
intuitive Erkenntniss des Allgemeinen im Concreten dar-
zudellen fcheint, bürgt D. für feinen Charakter als eines
fpontanen Aktes der überempirifchen Vernunft. Diefe
bedeutet D. freilich nur den formalen Einheitstrieb des
Ich, der auf praktifchem Gebiet die Harmonifirung der
verfchiedenen Antriebe fordert. Er ift erft recht das
Agens auf der zweiten Stufe der Entwickelung, der der fittlichen
Reflexion, die aus dem Material der Einzelintuitionen
im Anfchlufs an die Grundverhältniffe des Lebens
Regeln bildet und unter fich harmonifirt, dabei aber vielfach
noch eudämoniftifch und heteronom beeinflufst
wird. Auf der dritten Stufe erfafst fich die praktifche Vernunft
felbft, indem fie das Sittliche als das unbedingt
allgemeingiltige Eine, freilich nur formal und abftrakt
zum Bewufstfein bringt. Mit dem fo gewonnenen Kriterium
wird auf der vierten Stufe aus dem Material der zweiten ein
konkretes und widerfpruchslofes Syftem gebildet. Der
Stachel der Entwicklung ift derWiderfpruch,z.B.der zwifchen
der Vereinzelung der fittlichen Einzelforderung und ihrer
Unbedingtheit auf der erften, der zwifchen der Formalität
und Abftraktheit des Gefetzes und der Totalität des Sittlichen
auf der dritten Stufe.

Auf Seite des Gefühls und Willens löft das Ich die
ihm durch feinen Einheitstrieb geftellte Aufgabe, die
Disharmonie zwifchen den Trieben und der fittlichen Erkenntnis
durch feine That in Harmonie zu verwandeln,
nicht auf Grund einer Wahlfreiheit — D. bekämpft diefe
mit den bekannten Gründen als undenkbar und fittlich
werthlos, — nicht durch mechanifche Ausgleichung —
das Ich ift vermöge feines thätigen Charakters mehr als
der Ort der Wechfelwirkung hypoftafirter Einzelregungen
oder als blofse Begleiterfcheinung —, fondern vermitteln
der Erkenntniss. Hat das Ich das Sittengefetz als folches
erfafst, fo wird es fich mit ihm zufammenfchliefsen und
ein guter Grundwille werden, der nun die Kraft fowohl
zur konkreten Erkenntniss wie zur konkreten Harmonifirung
der Triebe ifi. Das Böfe irt ein Durchgangsfiadium, das
in Folge nicht genügend ausgebildeter Einficht in den
Werth des Ideals eintritt.

Noch deutlicher tritt die Fichte-Hegel'fche Dialektik
als das Princip der D.fchen Entwicklungsgedanken in
dem dritten gefchichtlichen Abfchnitt heraus. D. Prellt
hier gegenüber die Gegenfätze des Eudämonismus (der
mit der Unbedingtheit das Wefen des Sittlichen preis-
giebt und fich fchon dadurch widerlegt, dafs er fich in
keiner feiner Formen durchführen läfst, da der individuelle
in den fozialen, diefer in den negativen, den Peffi-
mismus übergeht) und die allerdings das Neue und
Uebernatürliche des Sittlichen vertretende, aber auch
abftrakte Ethik des unbedingten Soll, die er in 3 Formen
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