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Ausgabe:

1896 Nr. 3

Spalte:

80-86

Autor/Hrsg.:

Blass, Friedr.

Titel/Untertitel:

Acta apostolorum sive Lucae ad Theophilum liber alter 1896

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1896. Nr. 3.

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Seele auf ihr Intereffe für das höchfte Gut und ihr Ver-
hältnifs zu Gott concentrirt (52 f., 56 f., 64, 72, 85, 108 ff.).
Diefe Gedanken führen in der That in's Centrum. Hienach
ift aber auch der f. z. f. anti-eschatologifchen Tendenz
der Arbeit abgefehen von der fcholaftifchen Form ihres
Ausdrucks ein gewiffes Recht einzuräumen, freilich nur
ein gewiffes.

Es geht nicht an, Jefu Gotteserfahrung als einen
felbftändigen pfychologifchen Factor neben die escha-
tologifche Stimmung zu ftellen und zwifchen dem gegenwärtigen
Gottesgenufs' und dem Hinfehauen auf das Ende
eine Spannung zu fetzen. Das duldet weder die Sache
noch die Ueberlieferung. Es ift fchief, Jefu Ethik gemäfs
diefer Gotteserfahrung als eine Ethik des Heilsbefitzes zu
bezeichnen. Bleibt E.'s Anficht über die Arbeit an der
Welt aufser Spiel, fo fieht man nicht, wie der Gedanke
einer fchon empfangenen Gabe an Stelle eines noch
künftigen Heils die Ethik Jefu irgendwie charakteriftifch
beftimmt. Dafs Jefus von einem gegenwärtigen Ver-
hältnifs zu Gott' aus redet, ift wahr. Aber gegenwärtig
ift ihm eben der, der der einfüge Richter ift, d. h. diefes
Verhältnifs zu Gott liegt nicht über der eschatologifchen
Anfchauung, fondern in ihr. Unrichtig ift daher auch,
fo gewifs die Ethik Jefu felbft ein neues Erleben Gottes
bedeutet, die Behauptung, dafs nur eine im ftrengen
Sinne neue Gotteserfahrung (wie es immer um diefe
ftehe) die Geftalt und Kraft diefer Ethik im Unterfchiede
von der jüdifchen erkläre.

Allein darf man nicht fcheiden zwifchen dem eigentlich
religiöfen und dem eschatologifchen Momente des
Ganzen, fo darf man doch unterfcheiden und wird dann
freilich jenes als den Kern betrachten gerade auch in
Bezug auf die Weltbeurtheilung. Weitabgewandt er-
fcheint Jefu Ethik gerade infofern, als fie ausfchliefslich
individualiftifch religiöfen Charakter hat, nicht aber weil
fein Blick am Elende der Welt haftete oder weil er
fehnfüchtig oder furchtfam zum Himmel fchaute. Ift die
völlige Hingabe an den Dienft Gottes alles, fo ift jedes
weltliche Verhältnifs ein blofs neutraler Stoff für die
Bewährung der fittlichen Gefinnung, eine gleichgiltige
Hülfe, wenn es nicht gar die Freiheit der Seele für Gott
beeinträchtigt. Ueberfieht man diefen Urfprung der Weltbeurtheilung
Jefu, fo ift man in Gefahr die Innerlichkeit
feiner Anfchauung zu verkennen — infoweit halte ich E.'s
Darfteilung für durchaus richtig und werthvoll. Sehr
ernftlich mufs man freilich bei alledem fragen, wie Jefus
Leiftungen einer be fondern Vollkommenheit
würdigt, nämlich asketifch gefärbte und religiös-hcroifch
gemeinte.

Wie fleht es nun aber mit dem Meffiasanfpruche
Jefu? Kommt dadurch nicht ein neuer und ganz disparater
Zug in das Bild? Die fchwierigen Fragen, die hier
im Hintergrunde liegen, die pfychologifchen wie die
kritifchen, hat des Verf.'s Ausfuhrung auf S. 96—107
nicht gelöft. E. will die Meffianität Jefu von der Rolle
des künftigen Herrfchers verftehen, aber die pfychifche
Bafis diefes Meffiasbewufstfeins foll gerade im focialen
Wirkungsdrange liegen. ,Sein Meffiasthum, nicht feiner
Begriffsform, wohl aber feiner pfychologifchen Wurzel
nach, ift feine in's Eschatologifche überfetzte Theilnahme
am Diesfeits'. Diefe Anficht wird nicht viele befriedigen.

An Druckfehlern habe ich gegen fünf Dutzend auf
119 Seiten gezählt. Ein etwas boshafter redet von ,Nös-
gen's Gedichte der neuteftamentl. Offenbarung' (103).
,Anormal' ift eine häfsliche Bildung und .paradoxah (60)
keine fchöne. Warum fchreibt Verf. immer ,MeuscIiius
[ft. Meusc/ien], N. T. ex Tahnud[e] illustratum'r

Breslau. W. Wrede.

Blass, Prof. Dr. Friedr., Acta apostolorum sive Lucae ad
Theophilum liber alter. Editio philologica, apparatu
critico, commentario perpetuo, indice verborum illu-
strata. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1895.
(X, 334 S. gr. 8) M. 12. -

Es ift heute faft zu fpät, über die originellfte, die
textkritifche Partie des Buches zu reden. Eis haben fich
darüber zuerft E. v. D(obfchütz) im Literarifchen Cen-

] tralblatt Nr. 17 in ausgiebigfter Weife, dann in Kürze
A. Harnack in den Sitzungsberichte, der kgl. preufsifchen
Akademie derWiffenfchaften Nr. 27, weiterhin H. v. Soden
in der Deutfchen Litteraturzeitung Nr. 35, mehr oder
weniger auch Jüngft, Die Quellen der Apoftelgefchichte

I 1895, S. 130 f. und C. Clemen in den Theologifchen

i Studien und Kritiken S. 301 f. in wefentlich überein-

! ftimmender Weife dahin ausgefprochen, dafs allerdings
der Hort'fche zvester>i text fich in der Apoftelgefchichte
fchärfer als fonft von der grofsen Mehrheit der Zeugen

| abtrennt, dafs die von Bl. für ihn oder vielmehr für die
Recenfion ß in Anfpruch genommenen Zeugen (in erfter
Linie D, dazu einige Codices der Itala, Cyprian und das
Speculum, ganz befonders auch der von Thomas bei der
Correctur der Philoxeniana benutzte Codex) einen Com-
plex zufammengehöriger Lesarten erkennen laffen, dafs
diefe Lesarten zu einem grofsen Theil auch wirklich
einen alten Text darfteilen, der dem älteften kanonifchen,
der von Bl. fog. Recenfion « (fonft orientalifcher, fpeciell
alexandrinifcher Text), vielfach überlegen fein und bis in
die Frühzeit des 2. Jahrhunderts hinaufreichen dürfte,

| dafs aber diefer in einem Zuftande naturwüchfiger Wildheit
auf uns gekommene Text (dem eben darum auch
gar nicht der Name einer .Recenfion' zukommt) darum
noch keineswegs Anfpruch darauf erheben kann, der Originaltext
zu fein, letzterer vielmehr in zahlreichen Fällen
leicht in a erhalten fein dürfte, dafs überhaupt die Gruppe
für die Claffe ß nicht mit Beftimmtheit zu umgrenzen ift.
Der Verf. felbft giebt zu, dafs nicht der Stammcodex
Cantabrigiensis, welcher vielmehr viele Beimifchungen aus
a enthält (S. 25. 37), fondern das lateinilche Palimpfeft
Fleury (Codex l'ioriacensis) dem Archetyp der Recenfion ß
am nächften komme (S. 27); daneben fpielt fogar der

j lateinifche Gigas librorum StockJwlmiensis, welcher zu

I der dritten Claffe, den Vertretern des gemifchten Textes
gehört, eine gewiffe, im einzelnen Falle faft entfeheidende
Rolle (S. 27). So verdienfllich der Verfuch ift, diefen
Text, welchem noch B. Weifs in feinen ,Textkritifchen

I Unterfuchungen' vom Jahr 1893 nur faft beiläufige Beachtung
gefchenkt und jedenfalls fehr minderwerthige Be-

I deutung zugefchrieben hat (S. 2. 13), einmal fyftematifch
zu ordnen (das Material ift keineswegs etwa lediglich von
Tifchendorf u. A. entnommen), fo wenig ift es gelungen
und kann es gelingen, ihn als Recenfion zu reconftruiren
und einheitlich darzuftellen. ,Ohne eine erkennbare Methode
werden die Varianten, oft genug wenn fie auch
nur in D vertreten find oder nur in den Gloffen von syr.p.,
ja nur in Fl. oder gar nur in Gig., in den Text ß eingefetzt
. Da Bl. den textkritifchen Apparat für ß getrennt
zufammengeftellt hat, wird diefe mühfame, die Ueberfieht
wefentlich erleichternde Arbeit für einen künftigen, me-

I thodifcher vorgehenden Reconftructeur des Textes ß wohl
das Werthvollfte an dem Versuch von Bl. fein' (v. Soden

! S. IO93).

Ich ftehe dem Refultate von Bl. wefentlich fym-
pathifcher gegenüber als die genannten Kritiker, deren
Gefammtvotum ich übrigens als durchaus unanfechtbar anerkenne
. Denn von einem Generalbeweis für die Priorität
von ß, wie unfer Verf. ihn zu führen unternimmt (S. 31
non /tut homo verns qui lianc recensionem ß ex a efficere
possit, neque qui vellet), kann keine Rede fein. Anderer-
feits aber reicht die Berechtigung der Hypothefe doch
viel weiter, als kürzlich noch Bouffet zugeben wollte,
dem zufolge ,D den Zuftand feines Textes dem Spiele