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Ausgabe:

1895 Nr. 4

Spalte:

102-104

Autor/Hrsg.:

Berliner, A.

Titel/Untertitel:

Geschichte der Juden in Rom von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart (2050 Jahre). 2 Bde. in 3 Abthlgn 1895

Rezensent:

Schürer, Emil

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101

Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 4.

102

ift. Die neuteftamentliche Zeitgefchichte ift demnach
wie die neuteftamentliche Grammatik und das Lexikon
zum Neuen Teftament ein Hilfsmittel der Auslegung.
Danach beftimmt fich auch ihre Begrenzung. Sie hat
von jüdifcher und römifcher Gefchichte genau fo
viel zu geben, als zu voller und klarer Erkennt-
nifs der im Neuen Teftament befprochenen Er-
eignifse, Zuftände und Ideen gehört'. Von Haus-
rath's Werk unterfcheidet fich demnach der Holtzmann -
fche Grundrifs durch die Ausfchliefsung der Gefchichte
des Urchriftenthums, von dem des Unterzeichneten durch
die Aufnahme einiger Stoffe aus der römifchen Gefchichte;
auch durch umfaffendere Berückfichtigung des religiöfen
Vorftellungskreifes des jüdifchen Volkes im Zeitalter
Chrifti.

Verhältnifsmäfsig ausführlich ift die Einleitung, welche
nach einer Orientirung über die Aufgabe und die bisherige
Literatur eine Ueberficht über die Quellen der
neuteftamentlichen Zeitgefchichte giebt (S. 10—56). Dem
Alexandriner Philo allein lind hier zehn Seiten gewidmet
(S. 35—45). Im Uebrigen ift der Stoff unter drei Haupt-
Abfchnitte geordnet.

I. Der gefchichtliche Boden des neuteftamentlichen
Schrifttums (S. 57—135)- Aufser einer
fehr knappen, nur dreifsig Seiten (S. 57—87) umfaffenden
Ueberficht über die politifche Gefchichte Paläftina's von
Alexander d. Gr. bis zum J. 70 nach Chr. enthält diefer
Abfchnitt noch folgende Capitel: Politifche Geographie
im Neuen Teftament, Münzen und Mafse im Neuen
Teftament, Chronologie des Neuen Teftaments. Bei der
politifchen Geographie werden auch diejenigen Stoffe
untergebracht, welche der Verf. aus der römifchen Gefchichte
hereinzieht, nämlich: Die römifchen Provinzen
im Neuen Teftament (S. 96—106) und: Italien und Rom
im Neuen Teftament (S. 107—110). Es ift alfo doch nicht
viel, was aus diefem Gebiete aufgenommen wird.

II. Geftaltung des jüdifchen Volkslebens zur
Zeit der neuteftamentlichen Schriftfteller (S. 136
—185). Hier werden im Wefentlichen diefelben Stoffe
behandelt wie im zweiten Bande meiner ,Gefchichte',
nämlich: Der Tempeldienft von Jerufalem, Synagoge und
Schriftgelehrfamkeit, Das jüdifche Parteiwefen, Der hohe
Rat zu Jerufalem. Das Judenthum aufserhalb Paläftina's.

III. Die religiöfen Anfchauungen der Juden
in neuteftamentlicher Zeit (S. 186—245). Während
ich in meinem Buche aus dem religiöfen Leben und dem
Vorftellungskreife des jüdifchen Volkes nur die beiden
Pole, um welche fich Alles bewegt, das Leben unter
dem Gefetz und die meffianifche Ploffnung, zur Darfteilung
gebracht habe, greift Holtzmann weiter aus und
behandelt aufser dem Gefetz auch den Engel- und
Geifterglauben und ,die helleniftifche Beeinfluffung der
jüdifchen Religion'. Unverftändlich ift mir hiebei, wie H.
die meffianifche Hoffnung (S. 241—245) unter der Rubrik
,Die helleniftifche Beeinfluffung der jüdifchen Religion'
darfteilen konnte. Wenn irgend etwas, fo ift doch gerade
die meffianifche Hoffnung echt altteftamentlich-jüdifch;
und die etwa auch hier zu beobachtenden helleniftifchen
Einflüffe find fo geringe, dafs das Ganze durch jene
Rubricirung in eine recht fchiefe Beleuchtung gehellt
wird. Die Berechtigung derfelben fcheint mir durch die
Bemerkungen S. 244 f. keineswegs erwiefen, da die hier
hervorgehobenen Eigenthümlichkeiten der fpäteren meffia-
nifchen Hoffnung nur zum geringften Theile ,helle-
niftifch' find.

Der ganze Grundrifs bietet auf knappftem Räume
eine Fülle von belehrendem Material und wird fich ge-
wifs als ein fehr nützliches Hülfsmittel zur erften Orientirung
erweifen. Ich kann mich freilich des Eindruckes
nicht erwehren, dafs das Streben, auf engftem Räume
möglichft viel zu bieten, und namentlich alle im Neuen
Teftamente vorkommenden Beziehungen zur Zeitgefchichte
zufammenzuftellen, doch zuweilen zu einer Aneinander
-Reihung mannigfaltiger Einzelheiten geführt
hat, welche kein anfchauliches Bild gewinnen läfst.
Holtzmann fagt S. 4 von meinem Buche: ,Ueber dem
vielen Einzelnen kommen die treibenden Gewalten nicht
recht zur Geltung, aus denen lieh. das Einzelne doch
erft erklärt'. Ich will die Berechtigung diefer Kritik nicht
beftreiten; aber fie fcheint mir auf Holtzmann's eigenes
Buch erft recht Anwendung finden zu müffen. Dies ift
doch noch mehr als das meinige eine Darbietung von
vielen Einzelheiten, über welchen ,die treibenden Gewalten
nicht recht zur Geltung kommen'.

Zu einer Kritik diefer Einzelheiten ift, wie ich gerne
hervorhebe, nur feiten Anlafs. Die Arbeit ift durchweg
forgfältig und folide. In dem Abfchnitt über die Quellen
ift bei manchen nicht erwähnt, in welcher Sprache fie
uns erhalten find (z. B. IV FTra S. 21, Assiunptio Mosis
S. 23, IV Makkabäer S. 34). Bei IV Efra hätte die Ausgabe
der Texte in Hilgenfeld's Messias Iudaeomm 1869
doch erwähnt werden müffen, bei den Pfalmen Salomo's
die Ausgabe von Ryle und James 1891, für welche
vier Handfchriften benützt find, während alle früheren
nur auf einer Handfchrift ruhen. Beim Buch Henoch ift
zwar auf Theol. Litztg. 1892, 609—611 verwiefen, die
Entdeckung des umfangreichen griechifchen Fragmentes
aber nicht erwähnt. Wenn bei Philo S. 35 die Tauch-
nitz'fche Ausgabe erwähnt wurde, hätte die Richter'fche
nicht unerwähnt bleiben dürfen. Bei Phokylides S. 49
dürfte m. E. die Monographie von Bernays nicht fehlen.
Die fch on in der Zeitfchrift für Kirchengefch. XIV, 495 ff.
vorgetragene Anficht, dafs dem Synedrium von Jerufalem
von den römifchen Behörden die Jurisdiction über fämmt-
liche Juden im römifchen Reiche zugeftanden worden fei
(eine Anficht, welche durch die dafür angeführten Stellen
(ich keineswegs begründen läfst), ift leider auch hier
wiederholt (S. 67, 72, 173 h). Die Ableitung des Wortes
Haggada von higgid in der Bedeutung ,erzählen' ift jetzt
wohl nach den forgfältigen Unterfuchungen von Bacher
zu berichtigen (f. Theol. Litztg. 1892, 562, nach Thejewish
Quarterly Review IV, 406—429). Scharfer Tadel wird mir
S. 158 wegen meiner .zuvcrfichtlichen Behauptungen' und
,vorgefafsten Meinungen' in Betreff der Sadducäer zu
Theil. Ich war hiernach auf Holtzmann's Darftellung
fehr gefpannt, fand aber S. 164—166 zu meiner freudigen
Ueberrafchung faft genau meine eigene Anficht
wieder. Diefe fcheint alfo doch nicht fo ganz falfch
zu fein.

Kiel. E. Schürer.

Berliner, Dr. A., Geschichte der Juden in Rom von der

älteften Zeit bis zur Gegenwart (2050 Jahre). 2 Bde.
in 3 Abthlgn. Frankfurt a/M., J. Kauffmann, 1893
[erft im Auguft 1894 ausgegeben]. (X, 120; V, 128 u.
VIII, 236 S. m. Abbildgn. gr. 8.) M. 10.—

Eine Frucht jahrelangen Sammeins liegt in diefem
Werke vor. Seit dem J. 1873 ift Berliner zehnmal in
Rom gewefen, um das Material für feine Arbeit zufammen
zu bringen. Was er durch raftlofen Fleifs erarbeitet hat,
theilt er nun mit: eine zufammenhängende Gefchichte
der Juden in der Stadt Rom von ihrem erften Auftreten
dafelbft um die Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Chr.
bis zur Gegenwart. Der erfte Band behandelt die Juden
im heidnifchen Rom (160 vor bis 315 nach Chr.), der
zweite Band die Juden im chriftlichen Rom und zwar
Abtheilung I bis 1555, Abtheilung II von da bis zur
Gegenwart. Dafs die Darfteilung des Verf. von warmer
Sympathie für feine Glaubensgenoffen getragen ift, dafs
fie unter Umftänden zu einer Apologie derfelben und zu
einer Anklage ihrer Verfolger fich geftaltet, wird man
ihm nicht übel nehmen können.

Ref. darf fich ein Urtheil nur über den erften Theil,
die Gefchichte der Juden im heidnifchen Rom, erlauben'