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Ausgabe:

1895 Nr. 24

Spalte:

619-621

Autor/Hrsg.:

Baumgarten, Mich.

Titel/Untertitel:

Lucius Annaeus Seneca und das Christenthum in der tief gesunkenen antiken Weltzeit 1895

Rezensent:

Deutsch, Samuel Martin

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619 Theologifche Literaturzeitung. 1895. Nr. 24. 620

des Buches (S. 1—91) giebt das Wenige, was über Mofe's
Leben fich ermitteln läfst, fucht dann den Umfang feines
literarifchen Wirkens feftzuftellen und bietet fchliefslich
eine eingehende Charakteriftik feiner Anflehten, fowie
feiner Art zu arbeiten. Der Verfaffer hat fich den
Dank aller derer verdient, welche über die Gefchichte
der jüdifchen Literatur, infonderheit die Gefchichte der
älteren hebräifchen Sprachwiffenfchaft möglichft genaue
Kunde zu haben begehren. Bei diefer Gelegenheit fei
auch der erften felbftändig erfchienenen literarifchen
Leiftung Poznahski's empfehlend gedacht: Beiträge zur
Gefchichte der hebr. Sprachwiffenfchaft: I. Eine he-
bräifche Grammatik aus dem XIII. Jh. Zum erften
Male hrsg., mit Einleitung und mit Anmerkungen ver-
fehen von S. P., Berlin, 1894, S. Calvary u. Co. (35 S.
u. 23 S. hebr.) M. 2. 20; vgl. dazu: D. Kaufmann in:
Monatsfchrift für Gefchichte u. Wiff. des Judth., 1894,
S. 335 f-

Grofs-Lichterfelde. D. Hermann L. Strack.

Baumgarten, weil. Prof. D. Mich., Lucius Annaeus Seneca
und das Christenthum in der tief gesunkenen antiken
Weltzeit. Nachgelaffenes Werk. Roftock, W. Werther,
1895. (VIII, 368 S. gr. 8.) M. 6. —

Das vorliegende Werk, das ziemlich lange nach dem
Tode des Verfaffers ans Licht tritt, hat denfelben
während der letzten Jahre feines Lebens befchäftigt und
ift von ihm faft druckfertig hinterlaffen worden. Es er-
fcheint jetzt in verkürzter Genalt, mit Weglaffung, wie
der Herausgeber bemerkt, von vielem gelehrten Beiwerk,
ohne dafs jedoch der wiffenfehaftliche Charakter des-
felben beeinträchtigt wäre. Von den meiften andern
Schriften B.'s unterfcheidet es fich dadurch, dafs Excurfe,
die fich mit den Zuftänden der Gegenwart befaffen, nicht
vorkommen, auch ift die Darfteilung einfacher und leichter;
doch trägt es in vollem Mafse den Stempel der Eigen-
thümlichkeit B.'s in dem Beftreben, die gefchichtlichen
Mächte, die gefchichtlichen Gegenfätze in ihrem innerften
geifligen Grunde zu erfaffen. Der Titel ift übrigens nur
im Sinne einer geifligen Beziehung zu verftehen, nicht
im Sinne der auch in neuerer Zeit noch wiederholten
Vermuthung eines äufseren Verhältnifses des Seneca zu
zu den Chriften. — Drei eng mit einander verbundene
Aufgaben find es, die der Verfaffer in den fieben Ab-
fchnitten des Buches — I Seneca in dem Urtheil der
Jahrhunderte. II Seneca's Lichtfeiten. III Seneca's Nachtfeiten
. IV Das Attentat zweier facrilegifcher Lügen
wider die antike Menfchheit. V Seneca's Abwehr ohne
Sieg. VI Chriftus der Sieger in feinen Blutzeugen. VII
Cäfar; Chriftus — zu löfen fucht: die Würdigung Seneca's
felbft, die Darfteilung des ernften aber nicht fiegreichen
Ankämpfens der edleren Elemente in dem antiken Heidenthum
gegen die Mächte des Verderbens, endlich die
liegende Macht des Chriftenthums.

Hinfichtlich Seneca's widerlegt B. eingehend die vielverbreitete
Meinung, dafs er ein blofser ,Aretalogus' ge-
wefen fei, und fucht den perfönlichen Ernft des Tugend-
ftrebens des Mannes zu erweifen, andrerfeits bemäntelt
er die dunkeln Seiten in feiner Handlungsweife, befonders
feine Schmeichelei gegen Claudius und feine nachherige
Verhöhnung desfelben, ebenfo wie feine Nachgiebigkeit
gegen Nero keineswegs. S. fei hineingeftellt gewefen in
den Conflict mit einer Lügenmacht auf dem Gebiete
des öffentlichen Handelns und Verhaltens, der feine fitt-
liche Kraft nicht völlig gewachfen war. Das führt B.
auf eine nähere Erörterung über diefe unheimliche Macht;
er findet fie, wie der vierte Abfchnitt ausführt, in der
Menfchenvergötterung, die im Cäfarencultus ihren Gipfel
erreicht und in der Entfittlichung auf gefchlechtlichem
Gebiete, dem ,Baalscultus'. Beide, die religiöfe und die
fittliche Entartung, die nach Rom. 1,24 in innerem Zu-

fammenhang flehen, vgl. S. 176 ff., verfolgt die Darfteilung
B.'s mit unerbittlichem Ernfte in ihren vielfachen
Erfcheinungen und ihrer fortfehreitenden Steigerung, ohne
eine der je zuweilen vorgebrachten Entfchuldigungen
gelten zu laffen; andrerfeits hält B. es für verwerflich, diefe
Abgründe mit einer parteiifchen Befriedigung zur vermeintlichen
Ehre des Chriftenthums aufzudecken, vielmehr
müfife man es mit Schmerz empfinden, dafs das
herrliche Gotteswerk der antiken Menfchheit durch diefe
dämonifchen Mächte entftellt worden fei. Diefer An-
fchauung entfpricht es, dafs er mit Wohlgefallen, ja mit
Bewunderung bei den Erfcheinungen verweilt, die wie
der jüngere Cato, Thrafea, Kanus u. A. fich im Kampfe
mit jenen Mächten befinden. Was Seneca betrifft, fo
zeigt fein Verhalten, dafs er von dem befleckenden Ein-
flufs der Weltlüge fich nicht frei zu erhalten gewufst
hat; zwar von dem Vorwurf eines fbäflichen Umganges
mit der Agrippina fei er ebenfo freizufprechen, wie von
dem der Mitfchuld an ihrer Ermordung, aber gegen feine
richtigere Einficht hat er in der Meinung, Schlimmeres
verhüten zu können, dem Nero den Rath gegeben, eine
Concubine anzunehmen; dadurch und durch Schmeichelei
hat er feinen fittlichen Einflufs auf Nero gefchädigt, den
Muttermord, zu dem er nicht gerathen, hat er doch offi-
ciell zu rechtfertigen fich nicht gefcheut. Aber ungeachtet
diefer Schwächen und fittlichen Blöfsen, die er, inmitten
der troftlofen Verhältnifse der Cäfarenherrfchaft flehend,
nicht zu vermeiden weifs, ift es eine im Grunde aufrichtige
fittliche Gefinnung, die ihn beherrfcht, und dafs
diefe Potenz von der Weltlüge nicht vernichtet ift, dafür
legt vor Allem fein Verhalten angefichts des Todes
Zeugnifs ab. Mit fo grofser Bewunderung aber B. von
diefem Ende des Philofophen redet (S. 243 ff.; mit Bezug
auf den Bericht des Tacitus Ann. XV, 60—64, den
er mittheilt, bemerkt er, ,dafs diefer Bericht zu den
bedeutfamften und werthvollften Stücken der antiken
Literatur gehört, leuchtet ohne Weiteres ein, aber unvergleichlich
gewinnt die Bedeutfamkeit desfelben, wenn
man fich überzeugt, dafs das Verhalten Seneca's angefichts
des Todes, wie er hier ausführlich befchrieben
ift, genau dem entfpricht, was diefer Stoiker während
feines Lebens in Anfehung des Sterbens erftrebt und
fich vorgefetzt hat'), fo weift er doch darauf hin, wie
Senecas Tod ebenfo wie vordem der des Socrates, wie
der des Thrafea und anderer Märtyrer ihrer Ucber-
zeugung im Alterthum eine befreiende Wirkung auf
Andere nicht geübt hat, fondern vielmehr unter ihren
Anhängern und Genoffen Furcht verbreitet und fie zu
ängftlicher Vorficht, wenn nicht gar zum Verrath an
ihrer Ueberzeugung geführt hat. Denn es fehlte eben
dem heidnifchen Alterthum die geiftige Macht, in der
die Rettung aus dem die Welt umfchlingenden fittlichen
Verderben und die Bürgfchaft des Sieges lag. Diefe
Macht im Chriftenthum nachzuweifen find die beiden
letzten Abfchnitte des Buches benimmt, die zugleich
eine Apologie des chriftlichen Märtyrerthums gegenüber
neueren Angriffen enthalten. So viel Intereffantes und
Beachtenswerthes auch diefe Abfchnitte bieten, fo liegt
das Hauptintereffe des Buches m. E. doch in Abfchnitt
2—5. Aufser der pfychologifch eingehenden Darfteilung
deffen, was Seneca felbft betrifft, finden wir in ihnen
eine Fülle von Zügen zur religiöfen und moralifchen
Gefchichte des antiken Heidenthums gefammelt und in
geiftvoller Weife erörtert (vgl. z. B. über den jüngeren
Cato S. 93 ff., über die ftoifche Apathie S. 130 ff., über
das Verhalten der Athener gegen Alexander d. Gr. und
Demetrius Poliorketes S. 150 ff, über Mark Aurel S.
186 ff., 320 ff., über die Myfterienculte S. 206 ff., über
die römifchen Pantomimen S. 217 ff., auch die Aus-
einanderfetzung mit F. Ch. Baur S. 235 ff.), überall, auch
wo man dem Verfaffer nicht durchaus zuftimmen kann,
fühlt man fich intereffirt und angeregt. In der Beur-
theilung des chriftlichen Märtyrerthums hat der Verfaffer