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Ausgabe:

1893

Spalte:

52-53

Autor/Hrsg.:

Thomae Kempensis de imitatione libri IV. Textum ex autographo Thomae nunc primum accuratissime reddidit, distinxit

Titel/Untertitel:

novo modo disposuit; capitulorum et librorum argumenta, locos parallelos adiecit Carolus Hirsche. Ed. 2.,

Rezensent:

Mueller, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Mr. 2.

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wiegend patriotifchen Theologen zu gewinnen, während
die Burgunder gerade das Perfönliche des Proceffes betonen
, u. a. auch in der Abficht, die Entfcheidung der
burgundifchenDecretiftenfacultät zuzufchieben. An diefem
Perfönlichen haben aber auch die Orleans das Intereffe:
es gilt für fie, einen Schlag gegen den Gegner zu führen,
und es gelingt ihnen fchliefslich. Der orleaniftifche Bi-
fchof von Paris fetzt das theologifch-kirchliche Forum
durch und weifs doch zugleich die Burgunder zu treffen,
indem zwar das Perfönliche ausgefchieden bleibt, anderer-
feits aber die Verurtheilung nicht nur die theoretifchen
Lehrfätze, fondern die ganze Schrift Petit's trifft, die den
Titel ,Justificatio domini Ducis Burgundiae' führt. Gerfon
mufs dem fchliefslich zuftimmen. Seine Partei ift dadurch
noch enger an die orleaniftifche herangefchoben.

Der Procefs kommt nun dadurch in ein zweites
Stadium, dafs Burgund an den Papft appellirt, der Papft
aber bald in den Kampf mit dem Concil verflochten
wird und fchliefslich nach feiner Abfetzung das Concil
fleh als oberften Gerichtshof der Chriftenheit conftituirt.

Damit tritt Befs in die Gefchichte des Concils ein.
Das erfte Capitel diefes zweiten Abfchnitts giebt die
Vorgefchichte, foweit fie das Verhältnifs Frankreichs
und des Papftes betrifft. Auch diefe Partie enthält eine
Menge intereffanter Combinationen (Finanzpolitik des
Papftthums; die orleaniftifche Regierung als Vertreterin
der gallikanifchen Kirchenfreiheiten d. h. im Wefent-
lichen der finanziellen Selbftändigkeit und der Sicherung
der zur Verleihung von Pfründen berechtigten Prälaten
und Collegien gegen päpftliche Eingriffe; die Univerfität
als Gegnerin diefer Freiheiten, weil fie bei der Pfründenverleihung
von den Prälaten zurückgefetzt wird). Doch
ich übergehe das der Kürze halber und faffe. nur den
Gang des Concils felbft ins Auge.

In deffen Gefchichte legt B. grofsen Nachdruck auf
die Entwicklung der Gefchäftsordnung. Er trifft dabei
natürlich vielfach mit den früheren Arbeiten zufammen.
Aber der Reiz feiner Darftellung liegt auch hier darin,
dafs diefer Punkt nur als ein Stück der Gefammt-
gefchichte des Concils erfcheint. Im grofsen Ausfchufs
tritt die nationale Gliederung zuerft hervor, jedoch fo, dafs
Sigmund die vollftändige Herrfchaft über ihn behält,
weil hinter den nationalen Mitgliedern des Ausfchuffes
keine Organifation der Nationen fteht. Diefe entwickelt
fleh erft nach der Flucht des Papftes, wie das Gefühl
der neuen Bedeutung der Verfammlung alle Mitglieder
erfüllt. Die franzöfifche Nation, bisher durch ihre inneren
Gegenfätze am wenigften einfiufsreich, überholt alle
anderen durch ihre Organifation. Die Führung des Concils
liegt bei ihr und in ihrer Mitte bei den Vertretern
der Univerfität, vor Allem Gerfon. Es ift die Glanzzeit
der Univerfität. Diefe Organifation der Nationen hat
Sigmund's Einflufs eingedämmt: man weift feine Ein-
mifchungen alten Stils eiferfüchtig ab. Auch die Kardinäle
find ganz auf die Seite gefchoben und die königliche
Gefandtfchaft Frankreichs aufser Einflufs gefetzt. Jetzt
erft wird die Verfammlung in vollem Mafs eine Vertretung
der abendländifchen Chriftenheit und ihrer natio-
na len Kirchen.

Inzwifchen hat die franzöfifche Regierung, in der jetzt
der Dauphin die mafsgebende Stellung erftrebt, durch
die Wirren mit England und die drohende Haltung
Burgunds genöthigt, ihre Anlehnung an Orleans und
ihren ftarken Gegenfatz gegen das pifanifche Papftthum
aufgegeben. Allein das vornehmfte Mitglied ihrer Gefandtfchaft
im Concil, Ludwig von Baiern, der Bruder
der Königin, geht, wie B. meint aus perfönlichen Gründen,
feine eigenen Wege gegen Burgund, zieht Sigmund in
fein Intereffe, bringt ihn mit den Cardinälen in Verbindung
und fetzt fo für fie eine fünfte Stimme neben
den Nationen durch. In diefem Zufammenhang nimmt
auch Gerfon den Procefs gegen Petit wieder auf, wiederum
im Sinn feiner alten idealen Gedanken. Sigmund fteht

ihm nach Kräften bei. Immer mehr fammeln fleh alle
orleaniftifchen Elemente um ihn. Aber innerhalb der
Nationen ift die burgundifche Partei ftark vertreten:
es ift die Probe ihrer Kraft, dafs fie es durchfetzen, dafs
nur ein allgemeiner Satz, den niemand vertreten hat,
verurtheilt wird, die jfustificatio ducis Burgundiae dagegen
frei ausgeht — alfo ein Mifserfolg Gerfon's.

Es ift mir nicht möglich, das Buch im Einzelnen zu
kritifiren. Ich habe feit Jahren nicht mehr auf diefem
Gebiet gearbeitet und müfste doch das gewaltige Material
durchackern, wenn ich prüfen wollte, ob nicht hier
und dort eine andere Erklärung wahrfcheinlicher und
weniger künftlich ift, als die, die der Verfaffer theilweife,
namentlich in den fpäteren Partien giebt. Ich kann mich
des Eindrucks nicht erwehren, als ob er hie und da zu
viel erklären wollte. An einzelnen Punkten verliert feine
Darftellung an Ueberzeugungskraft. Den Satz in der
Vorrede S. VIII, ,dafs der Hiftoriker für Alles eine Erklärung
zu fuchen eine Pflicht hat', erkenne ich auch an.
Aber manchmal wird er feine Pofltion ftärken, wenn er
erklärt, dafs feine Mittel nicht ausreichen, eine zu finden.
Indeffen es find verhältnifsmäfsig wenige Stellen, wo man
diefen Eindruck bekommt, und der Verf. felbft ift fleh
deffen bewufst, dafs folche Stellen da find (S. VIII). In
der Hauptfache ift er doch gewifs auf dem richtigen
Wege und vor Allem hat er die richtige Methode, die
dem Ziel einer lebendigen Gefchichte des Concils näher
führt. Und im Uebrigen kann ich nur bezeugen, dafs
er mit unermüdlichem Fleifs, mit einer Frifche, die auch
am Ende nicht erlahmt, die Quellen wie die Menge der
Arbeiten feiner Vorgänger durchgearbeitet hat. Ich gebe
der Hoffnung Ausdruck, dafs ihm die Fortfetzung und
der Abfchlufs feiner Darftellung bald gelinge.

Schade ift, dafs einem fo tüchtigen Buch eine fo
mangelhafte Ausftattung zu Theil geworden ift: fchlechtes
graues Papier und unfehöner enger Druck.

Breslau. Karl Müller.

Thomae Kempensis de imilatione libri IV. Textum ex
autographo Thomae nunc primum accuratissime red-
didit, distinxit, novo modo disposuit; capitulorum et
librorum argumenta, locos parallelos adiecit Carolus
Hirsche. Ed. II., correcta et aueta. In est faesimile
autographi Thomae. Berlin, Habel, 1891. (XLVIII,
376 S. 8.) M. 4. —; geb. M. 5. —

Im Wefentlichen ift diefe zweite Ausgabe ein Abdruck
der erften von 1873, vermehrt um ein Facfimile
des fogen. Brüffeler Autographon der Imitatio. fowie mit
Inhaltsüberfichten über die einzelnen Bücher. DieGrund-
fätze, nach denen fchon die erfte Ausgabe bearbeitet
war, find in dem grofsen Werk Hirfche's ,Prolegomena
zu einer neuen Ausgabe der /. Chr.' u. f. w. niedergelegt.
Die Frage, ob die dort niedergelegten Ergebnifse richtig
find, entfeheidet über die Präge, ob es richtig und noth-
wendig war, die neue Ausgabe in der befonderen Art
einzurichten, wie es hier gefchehen ift. Sollte man aber
auch die Frage verneinen müffen, fo bleibt doch immer
noch die Thatfache übrig, dafs hier allem Anfchein nach
die correctefte Wiedergabe des Autographon-Textes vorliegt
. Auf die Einwürfe, die Denifie in der Zeitfchr. f.
kath. Theol. 7, 692 ff. gegen Hirfche's Deutung der Interpunktionen
des Autographon, fowie gegen die Autorfchaft
des Thomas und damit den Originalcharakter der
Brüffeler Handfchrift geltend gemacht hat, und auf die
fchweren Bedenken, die mit neuen Mitteln von E. Fromm
in der Zeitfchr. f. KG. 10, 54 ff. gegen Thomas erhoben
worden find, — auf diefe Bedenken hat Hirfche nicht mehr
geantwortet. Ein unheilbares Augenleiden hat ihm in den
letzten Jahren die Arbeit ganz erfchwert und am 23. Juli