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Ausgabe:

1893 Nr. 26

Spalte:

640-641

Autor/Hrsg.:

Möller, Wilh.

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Kirchengeschichte. 2. Bd. Das Mittelalter. 2. durchgesehene Ausg 1893

Rezensent:

Loofs, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 26.

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Sprache nur eine höchft unfchuldige Liebe zur Biblio-
tkeque nationale und die weitgehende Umwandelung der
Eigennamen (Coire für Chur, aber Leipzig!) und Titel,
die z. B. S. 422 folgende komifche Angabe herbeiführt
^Denkschrift de l' Academie de Vienne, phil.-hist.
Kl. t. XIII p. 85)'. Das Lob der Vorficht im Entfeheiden
und Behaupten wird durch einzelne zu fcharf zugefpitzte
Thefeti nicht aufgehoben, wie wenn B. auf S. 315 die
lateinifche Capituhrung der Apokalypfe fo beftimmt auf
griechifche Mufter zurückgeführt oder S. 3 ausgerufen
wird: V Anden Testament na redlement cte revele aux
peuples latins que par Saint Jeröme — was mindeftens
bezüglich des Pfalters abgelehnt werden mufs. Nicht
immer fcheinen mir die bei den Tabellen der Variantenzahlen
betreffs der Verwandtfchaftsverhältnifse zwifchen
den Handfchrr. gezogenen Schlüffe unangreifbar; man
erfährt doch nicht, ob die gezählten Fälle von Üeber-
einftimmung oder Abweichung an Gewicht einander
irgendwie gleichftehen; denn z. B. die Schreibung Corozain,
Corazain oder Corizain in Mtth. 11, 21 und etwa ein
Wechfel von est und esset, von enim und ante/// dürfte
nicht irgendwie ficher auf die Vorlage des betr. Schreibers
zu fchliefsen geftatten. Oder darf man ernftlich
z. B. S. 201 ein demittam (ftatt dimittani) in Matth. XVIII,
21 als eine von des plus rares et les plus curieuses1 Lesarten
des cod. Vallieelltanus notiren, wenn man foeben
als Belege für die incorrecte Orthographie der Hand-
fchrift gerade auch ,demittimus, demiseritis, demitteP in
Mtth. VI, 12. 14 angefühlt hat? Doch folche Anftöfse
find Ausnahmen. Im Ganzen bleibt fich B. deffen wohl
bewufst, wie in fo difficilen Fragen das Wägen mehr
gilt als das Zählen, und nichts liegt ihm ferner als die
Eilfertigkeit, die etwa in einer Mdfchr. ein paar Evan-
gelienftellen nachfehlägt, hier die Lesarten der anderen
Manufcripte vergleicht und danach die Verwandtfchaft
keck beftimmt. Vielmehr ift befonders zu rühmen, wie
forgfam B. alle Theile einer Handfchrift durchgeprüft
hat, deffen eingedenk, dafs ein Buch aus ganz ver-
fchiedenen Vorlagen abgefchrieben und fomit höchft
verfchiedenwerthige Texte bieten kann: wie oft hat
ihm die Erfahrung aufs Lehrreichfte diefen Satz beitätigt
!

Einzelne Druckfehler und Verfehen des Autors wird
man auch hier finden, aber im Verhältnifs erftaunlich
wenige und wenig erhebliche. Z. B. S. 27 1. Zacagni ft.
Zaccagni, 197, 14 v. u. 1. Vallicellianus ft. Vallicellanius,
303, 7 sapientiaux ft. taux, 316 n. 1 1. /. II, 1 lt. III, 1,
370 Z. 1 v. u. 1. Rehdigeranus ft. Rhedigerianus und
1865 66 ft. 1865, mehrere Fehler flecken in den Noten
zum cod. 9380 auf S. 406; Weyhrich ftatt Weihrich ift
übrigens wie dort auch S. 171 u. 412 gefchrieben. Prosper
Aquit. 100 Jahre vor Avitus, der genau 517 geftorben
fein foll, zu fetzen, ift doch etwas gewagt, ebenfo die
Verficherung bezüglich des Andreas vonCaefarea (S. 307),
gut a ecrit sur l'Apocalypse ä la fin du V siede. S. 321
und 322 n. 3 wird — doch in Folge von Verwechslung
— Nicdphore Callifte erwähnt, wo es fich um den
Nikephoros handelt, der 806—15 Patriarch von Conftan-
tinopel war. Die Lifte der Zeugen für III Reg. VIII, 22—
31 S. 153 n. 3 weicht von der S. 200 n. 7 gegebenen
auffallend ab (z. B. zwifchen Bibl. N. I. 2. 3. 4 und 11505
dort 5. 6. 7. 8. 10. 13. 104 hier 47. 93), nicht etwa nur
in der Reihenfolge (worin B. überhaupt wenig Gleich-
mäfsigkeit beobachtet); aber an beiden Orten deutet der
Verf. an, dafs er auf Vollftändigkeit keinen Anfpruch
mache. Auch Wiederholungen (z. B. S. 33 und 41 die
Identificirung von doublets und conflate readings) begegnen
wohl; ich wundere mich nur, dafs fie bei einem
ib gleichförmigen Stoffe fo feiten begegnen. Und wenn
der Autor bisweilen überflüffig detaillirt über das Aeufsere
von Handfchriften, Ornamente u. dgl. zu berichten fcheint,
fo pflegt fich bald zu zeigen, dafs er feinen Zweck nicht
über archäologifchen Liebhabereien aus dem Auge verliert
: oft helfen folche Kleinigkeiten über die Verwandtfchaftsverhältnifse
mit entfeheiden.

Von dem raftlofen Fleifs und der gründlichen Ge-
lehrfamkeit Berger's brauche ich nicht erft zu reden: auf
Schritt und Tritt bemerkt man, wie vertraut er mit der
gefammten einfehlägigen Literatur bis zu den allerneuften
Arbeiten herab ift — und mehrfach beruft er fich fchon
auf demnächft erfcheinende Auffätze —: die ganz nützliche
,Liste des prindpaux ouvrages qui Interessent
Vhistoire de la Vulgate' (S. XXII ff.) ift bei ihm wahrlich
kein blofses Prunkftück.

Der Gewinn von folcher Arbeit ift denn auch ein
reicher und mannigfaltiger. Nicht etwa nur über die
Entwickelungsgefchichte des Vulgatatextes zwifchen 500
und 900 find wir jetzt ganz anders orientirt als zuvor;
eine Reihe intereffanter Jtala'-Texte hat B. entdeckt, fo
in Leon (S. 21) einen von IV Efra, in Madrid (S. 22)
einen von Ruth, I u. II Macc, und befonders reichlich
eigenthümliche alte Texte oder verftreute Lesarten zur
Apoftelgefchichte. Sehr verdienftlich find auf S. 320 f.

! die Ausführungen über das Alter des Mommfen'fchcn
Kanonverzeichnifses, und werthvolle cultur- und kirchen-
gefchichtliche Ausblicke thut der Verf. nicht blofs auf

' die Zeit Karl's des Grofsen und feiner Söhne und Enkel,
fondern ebenfo auf ältere und jüngere Perioden, hier die
Bemühungen der verfchiedenen Orden um den Bibeltext,

; dort z. B. auf den nicht alemannifchen Charakter von
St. Gallen und den geringen Einflufs des irifchen Ele-

i ments dafelbft.

Trotz all diefer Vorzüge haftet dem Werk nach
meinem Gefühl der Charakter einer Vorarbeit an, in
gewilfem Sinne der des Unfertigen. Und zwar nicht nach
uns, fondern nach dem Alterthum zu ift fie unfertig.
Man erfahrt Vieles und Neues über die Gefchichte der
Vulgata im frühen Mittelalter, aber die Vulgata ift ein
Product des Alterthums, und ihre Gefchichte kann gar
nicht abgelöft werden von der der älteren lateinifchen
Bibelüberfetzungen. B. fpricht öfters von guten und von
fchlechten Vulgatatexten; der Lefer aber kann mit diefen
Prädicaten wenig anfangen, weil ihm der Mafsftab fehlt.
Ein Vulgatatext kann fchlecht heifsen, weil er leichtfertig

; und ungefchickt abgefchrieben worden ift, aber auch weil

| er mit älteren (Itala-) Lesarten ftark durchfetzt ift. — B.
hat den Verfuch gemacht, eine mit allen Mitteln der
modernen Wiffenfchaft gearbeitete Gefchichte der lateinifchen
Bibel in der Mitte zu beginnen — denn dafs
er die Arbeit da nicht liegen laffen wird, erhoffe ich mit

j allen Freunden diefer Studien —; hier wie überall fonft

; ift die Folge davon, dafs der Lefer meint, keinen Boden

i unter den Füfsen zu haben, dafs er den Anfang vermifst.

i Möchte B. alsbald der Itala feine Arbeitsfreudigkeit und

! fein Wiffen widmen.

Marburg. Ad. Jülich er.

| Möller, fProf. Dr. Wilh., Lehrbuch der Kirchengeschichte.

2. Bd. Das Mittelalter. 2. durchgefehene Ausg. Freiburg
i. B., J. C. B. Mohr, 1893. (XIV, 568 S. gr. 8.)
M. 12.— ; geb .M. 14.50.

Der zweite Band der Möller'fchen Kirchengefchichte
war, wie das Vorwort der vorliegenden zweiten Aus-
i gäbe mittheilt, in kleinerer Auflage gedruckt, als der erfte,
und ift daher fchneller vergriffen worden. Da der Ver-
faffer inzwifchen feiner Arbeit durch den Tod entriffen
ift, fo erwuchs hieraus dem Verleger nicht geringe Verlegenheit
. D. Kawerau, der für den vorliegenden Neudruck
,die nothwendige redactionelle Hülfe geleiftet' hat,
fagt darüber im Vorwort: ,Es konnte fich nicht um eine
i zweite Auflage mit erneuter Durcharbeitung des ganzen

! Materials handeln.....Aber es konnte auch nicht an-

gemeffen erfcheinen, einfach einen unveränderten Neudruck
zu befchaffen'. Niemand wird dem widerfprechen