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Ausgabe:

1893 Nr. 15

Spalte:

372-374

Autor/Hrsg.:

Deissmann, G. Adf.

Titel/Untertitel:

Die neutestamentliche Formel ‚in Christo Jesu‘, untersucht 1893

Rezensent:

Link, Adolf

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37i

Theologifche Literaturzeitung. 1893. Nr. 15.

372

Perfon ins Kraut fchiefsen zu laffen. Und da rein fachlich
verfahren wird, bleibt die Eigenart des Lernenden
ungefchädigt; alle feine befonderen Anlagen werden nur
geweckt und geübt zu felbftändiger Mitarbeit. Noch ehe
er an Wellhaufen's bahnbrechende Arbeiten herantritt,
follte jeder neue Jünger der Zunft an diefen Unterfu-
chungen fich fchulen, eben weil hier kein Bindeglied fehlt
und kein möglicher Schritt übergangen ift. Schade, dafs
gerade fie nicht in Ueberfetzungen vorliegen und auch
fchwerlich welche finden werden; aber wer auch nur um
ihretwillen das Holländifche erlernt, hat den Gewinn
nicht zu theuer bezahlt.

Die Schranken der Sprache, die leider fo Viele von
dem Segen feines Vorbildes ausfchliefsen, waren für
Kuenen, fchon als Holländer, kaum vorhanden. Dies
und feine ungewöhnliche Arbeitskraft ermöglichte ihm
einen Rundblick auf dem ganzen Gebiete, wie ihn nur
ganz feiten jemand befitzt. Sein hist.-crit. onderzoek
liefert fchon bei flüchtigem Einblick den Beweis. Diefe
Beherrfchung des Gebietes und feine ungewöhnliche Fähigkeit
, dem Gedankengang Anderer zu folgen und gerecht
zu werden, machten ihn zum wahren Mufter eines Re-
viewers, wie wir es fchwerlich wieder fehen werden;
wieviel auch fein trefflicher Nachfolgerin der Theol. Tijd-
schrift leiften mag, er weifs felbft am beften, dafs es
unmöglich ift, Kuenen darin zu erfetzen. Er ftand auf
feiner Warte wie das Gewiffen der altteftamenthchen
Wiffenfchaft; je milder fein Urtheil an fich war, umfo
wuchtiger fielen feine Schläge gegen jede wirkliche Ungebühr
, umfo tieferen Eindruck hinterliefsen die Ueber-
fichten, in denen er je und je als Schiedsrichter zwifchen
die Streiter trat.

Nur ein bedeutender Menfch, nur ein edler Charakter
kann der Träger eines folchen freiwillig anerkannten
Anfehens und Einfluffes fein. Das ift das Zeugnifs,
welches Kuenen, dem kirchlichen Parteiführer in feinem
Vaterlande — einer Seite feiner Wirkfamkeit, die uns
ganz fern liegt — von allen Seiten, auch von den ent-
fchiedenften Gegnern, bei feinem Tode ausgeheilt wurde.
Es ift ein weit verbreitetes Vorurtheil draufsen Stehender,
dafs hohe kritifche Anlage und ihre dauernde Bethätigung
eine kalte, verftandsmäfsige Natur, einen Mangel an Herz
und Gemüt vorausfetze und befördere, und gerade Kuenen
gegenüber hat der Unverftand dies gelegentlich fehr
ernfthaft und gefliffentlich zum Ausdruck gebracht. Die
Antwort auf diefes Mifsverftändnifs giebt Annette von
Drofte in einem Nachruf auf einen ihr nahe verwandten
gelehrten Schriftfteller:

Welch fremdes Au^ hat in den ernften Lettern,
Dem ftrengen Wort, des Herzens Schlag erkannt ?
Die Blitze faht ihr; aber aus den Wettern
Saht ihr auch fegnen eines Engels Hand ?

Wer wie der Unterzeichnete das Glück gehabt hat,
Abraham Kuenen nicht nur brieflich fondern perfönlich
nahezutreten, wer unter feinem Dache und im Kreife
feiner Familie hat Gaft fein dürfen, wird nicht zögern,
diefe herrliche Ehrenrettung der kritifchen Arbeit in ihrer
vollen Tragweife auf ihn anzuwenden. Von feiner edlen,
auch äufserlich fchönen und mächtigen Perfönlichkeit
ging ringsum ein folcher Strom von Menfchenliebe und
herzgewinnender Freundlichkeit aus, die Lauterkeit und
der innere Friede feines gereiften chriftlichen Charakters
übte einen fo wohlthuenden Einflufs, dafs jeder, der mit
ihm in nähere Berührung kam, vor jenem Mifsverftändnifs
ein für alle Mal bewahrt fein mufste. Wer ihn fo gekannt
hat, weifs, dafs alle feine Arbeiten mit feinem Herzblut
gefchrieben find, und kann nicht die fcheinbar trockenfte
Unterfuchung von ihm lefen, ohne dafs ihm Kuenen's
edle Perfönlichkeit mit allen ihren Zügen daraus entgegenträte
.

Ehre feinem Andenken, und feinem Vorbilde viele
Nachfolger!

Strafsburg i/E. K. Budde.

Deissmann, Privatdoc. Repet. Lic. G. Adf., Die neutesta-
mentliche Formel ,in Christo Jesu', unterfucht. Marburg
i. H., Elwert, 1893. (X, 136 S. gr. 8.) M. 2.50.

Das Problem diefer Arbeit, die zum gröfseren Theile
der Marburger theologifchen Facultät als Promotionsund
Habilitationsfchrift vorgelegen hat, ift wefentlich
grammatifcher Art. Es kommt dem Verf. darauf an, die
fprachliche Bedeutung der neuteftamentlichen Formel
sv Xgiacii) feftzuftellen und fo der Unficherheit ein Ende
zu machen, die ebenfo hinfichtlich ihrer Erklärung in den
Commentaren, wie ihrer Verwendung in unferer heutigen
religiöfen Redeweife herrfcht. Alle rein biblifch theologifchen
Fragen, welche uns die neuteftamentliche Vorftellung
,in Chrifto' nahe legt, werden nur fo weit behandelt
, als zur Aufhellung des urfprünglichen Sinnes jener
Formel unerläfslich war. Die Arbeit ift fehr gut gefchrieben
. Ganz vortrefflich find die methodologifchen Erörterungen
, mit denen der Verf. feine Unterfuchung Schritt
für Schritt begleitet. War hier auch der Natur der Sache
nach nicht viel Neues zu fagen, fo zeichnen fich diefe
Partien doch durch befondere Schärfe und Klarheit
aus und legen in erfreulicher Weife von der Sorgfalt
und Umficht, wie der umfaffenden Vorbildung D.'s Zeugnifs
ab.

Ausgehend von der Vorausfetzung, dafs das Cha-
rakteriftifche der Formel sv Xgiaiqj darin befteht, dafs
hier sv mit dem Dat. Sing, einer Perfon verbunden ift,
führt uns D. zunächft die analogen Fälle aus der Profan-
gräcität, foweit dies an der Hand der philologifchen Literatur
möglich war, in chronologifcher Reihenfolge vor.
Er hat fich ferner die Mühe nicht verdriefsen laffen, die
LXX auf diefelbe Erfcheinung hin felbftändig zu unter-
fuchen. Sein Refultat lautet dahin, dafs wir es in der
Verbindung sv Xgiazu/ mit einer gut griechifchen, durchaus
nicht als Hebraismus zu beurtheilenden Redeweife
zu thun haben. Und zwar habe Paulus diefe p-ormel gebildet
, um mit derfelben feiner religiöfen Lieblingsvor-
ftellung Ausdruck zu geben, der Idee von einem local
aufzufaffenden Sichbefinden der Gläubigen in dem pneu-
matifchen Chriftus, in dem, wahrfcheinlich realiftifch gedachten
, der Luft vergleichbaren nvsvua - Elemente.
Ueberall fei bei Paulus sv Xguvtd) in diefem Sinne zu
nehmen, wie D. an der Hand zahlreicher Stellen nach-
zuweifen fucht, an denen die Formel gewöhnlich anders
erklärt wird. Nur kurz kommt Verf. endlich auf die Verwendung
jenes Ausdrucks in der nachpaulinifchen Literatur
zu fprechen, indem er befonders hervorhebt, dafs
die Formel in den Deuteropaulinen fchon viel von ihrer
urfprünglichen Klarheit und Frifche eingebüfst habe und
zur todten Arabeske zu erharren beginne. Für Johannes
endlich fei es charakteriftifch, dafs hier die paulinifche
Vorftellung von einem Sein der Gläubigen in dem erhöhten
Chriftus bereits auf das Verhältnifs zum irdi-
fchen übertragen werde.

In dem Grundgedanken der Arbeit, dafs nämlich
für Paulus überall, wo er von einem Sichbefinden der
Gläubigen in Chriftus redet, diefer als der pneumatifche
xvQiog in Betracht kommt, ftimmt D. mit den meiften
neueren Exegeten überein. Wenn er es nun aber unternimmt
, jedes sv Xoiato) bei Paulus auf die Vorftellung
von einem Sein der Gläubigen in Chriftus zurückzuführen
, in welcher Verbindung die Worte auch flehen
mögen, das sv alfo jedesmal rein local zu erklären, fo
geht er damit m. E. weit über das Mafs des Richtigen
hinaus. Es macht fich hier, wie mir fcheint, ein Irrthum
geltend, der die Arbeit von Anfang an beherrfcht. Indem
nämlich D. als das eigentliche Problem der Formel
die Thatfache hinftellt, dafs hier sv mit einem (ingulari-
fchen, perfonellen Begriffe verbunden ift, verliert er den
klaren Blick dafür, dafs fich die Bedeutung einer Prä-
pofition zunächft nach dem Worte richtet, von welchem
diefelbe abhängt. So verändert fich auch der Sinn des