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Ausgabe:

1891 Nr. 25

Spalte:

624-628

Titel/Untertitel:

Rauwenhoff, Religionsphilosophie 1891

Rezensent:

Thoenes, Karl

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623 Theologifche Literaturzeitung. 1891. Nr. 25. 624

fächlich vieles aus Kr. erft gelernt hat, beweift der Nachtrag
einer Reihe von Briefen II 331 ff.; und nicht minder
zeigen es die II 360 fr. gegebenen Berichtigungen zu den
den Briefen beigefügten Erläuterungen, von denen vieles
— ohne dafs es getagt wäre — aus Kr. entnommen ift.
Mufs man diefes Nebeneinanderarbeiten beider Gelehrten
ohne freundfchaftliche Verftändigung lebhaft bedauern —
denn jeder hätte aus der Mitarbeit des anderen Gewinn
gezogen, und der Lefer hätte eine vortreffliche, ftatt
zweier fich gegenfeitig ergänzender Mutianausgaben —,
fo ift doch nicht zu verkennen, dafs G. unter dem Druck
diefer Rivalität mit höchfter Anfpannung feiner Kräfte
gearbeitet und fehr Tüchtiges geleiftet hat. Seine Ausgabe
, zu deren Vollendung er fich nun Zeit liefs (erfl
1886 wurde der Druck des Textes beendet; das Vorwort
datirt vom April 1888, die Einleitung aber, welche
Mutian's Lebensbild bringen follte, war noch unvollendet,
als der Verf. am 8. Oct. 1889 ftarb), zeigt verfchiedene
Vorzüge gegenüber der Kr.'s. Zunächft, dafs er auch die
bereits früher gedruckten Briefe fämmtlich vollftändig
abdruckt, nicht wie Kr. von vielen nur Regelten giebt;
fodann dafs er fämmtliche Briefe chronologifch ordnet,
während Kr. drei parallele Sammlungen bietet, 1) die
Briefe des Frankf. Mutiancodex, 2) fonlt aus Hand-
fchriften Gefammeltes, 3) die fchon früher gedruckten
Briefe; dafs fich dadurch G.'s Sammlung vor der Kr.'s
zu bequemer Benutzung empfiehlt, ift einleuchtend. Aber
auch für einen kritifch genauen Text, für die Datirung
und Commentirung der Briefe hat G. mit gröfster An-
ftrengung fich mit gutem Erfolg abgemüht. Die Zahl
der Briefe deckt fich nicht in beiden Ausgaben. Kr.
druckt den Frankf. Codex, deffen Schreiber übrigens
G. in Heinrich Urban, dem Hauptadreffaten der Briefe,
glücklich ermittelt hat, vollftändig ab, alfo auch Briefe,
die von andern an andere gefchrieben find, G. hält fich
hier ftrenger an den Titel des Buches und giebt in diefer
Beziehung weniger; andererfeits bietet G. mehr als Kr.,
indem er noch einiges aus früheren Drucken beilteuert,
z. B. Nr. 557. 558. 625 c. 626. 645, befonders aber, indem
er aus Basler Handfchriften einige Briefe von Crotus,
Eob. Hefs und Urbanus an Spalatin veröffentlicht; letztere
find befonderer Beachtung werth, wenn fie
auch z. Th. zum Briefwechfel des Mutian nur lofe Beziehungen
haben. Auf Eob. Hefs's Briefe aus Riefenburg
(12. Apr. 1512) und Frankf. a. O. (2. Mai 1513) fei befonders
aufmerkfam gemacht; fie find für die Biographie
diefes Mannes von Werth. Warum Leute wie Mutian
und Genoffen Luther nicht verltanden, beleuchtet vorzüglich
ein Brief Urban's an Spalatin (20. Nov. 1524),
der unter dem frifchen Eindruck der Leetüre von des
Erasmus de libero arbitrio gefchrieben ift: ,Putant non-
nulli non habere Lutherum neque posse Erasmo respon-
dere. Et Mutianus noster dicit Erasmum eruditissime
scripsisse pro libero arbitrio. Ego de tantis rebus,
quoniani captum meum e xce dunt, iudicare non
possum Die forgfame Einleitung über das Leben
Mutian's bricht leider an der für den Theologen wich-
tigften Stelle, bei der Charakteriftik der religiöfen und
kirchlichen Stellung Mutian's ab. Man fieht nur noch,
dafs G. diefe als ein fortwährendes Schwanken zwifchen
Glauben und Zweifeln, ja Unglauben auffafst; erft am
Abend feines Lebens fei er ,zu einer ruhigen und ficheren
Erkenntnifs' gelangt. Auf den Erweis diefes letzteren
Satzes dürfte man gefpannt fein. Das Erfcheinen der
epist. vir. obsc. fetzt G. mit Kampfchulte auf Grund des
Briefes Scheurl's vom 24. Febr. 1516 in den Anfang des
J. 1516, nicht, wie üblich, in den Frühherbft 1515. Der
Plan diefer Brieffammlung ging nach G. von Mutian aus;
bei der Ausführung im Einzelnen wurden feine Winke
und Rathfchläge getreulich benutzt. Kr.'s Vermuthung,
dafs das Abbrechen der Brieffammlung Urban's an diefem
Zeitpunkt mit dem Geheimnifs, in welches die Verfaffer
der epp. vir. obsc. fich hüllten, in Zufammenhang fleht,

ift von G. m. E. zu fchnell abgewiefen. — In der fchwie-
rigen Datirung der meift undatirten Briefe treffen beide
Editoren häufig zufammen, oft weichen fie ab; da beide
zumeift ihre Datirung nicht näher begründen, könnte
nur eine eingehende Nachprüfung des gefammten Brief-
wechfels die Inftanzen würdigen, die jedesmal ausfchlag-
gebend gewefen find. Ich bemerke hier nur, dafs der
Zuhammenhang der bei G. weit getrennten Briefe Nr.
19 und 101 von Kr. m. E. richtig erkannt ift, dafs dagegen
G. wohl mit Recht Nr. 39 ,partio Mariana' auf
den 25. Dec. und nicht wie Kr. auf Mariä Geburt, 8. Sept.,
bezieht; auch Nr. 343 fcheint er mir das Datum gefunden
zu haben. Eine Kr. berichtigende, fchätzbare Anmerkung
erhalten wir Bd. II, 241. Mehrfach giebt er beffere Lesarten
, doch gewifs nicht II 236 Navigandus est ft. Navi-
gandum est; und auch nicht II 273 encolpi ft. eucolpi. Im
Rechte wird auch Kr. fein, wenn er den Jimitaneus1
(Nr. 4, G. I, 9) für einen Offizier der Gothaer Schlofs-
wache erklärt, während G. an einen Canonicus denkt.
Warum G. zu Nr. 560 den Druck bei Enders, Luther's
Briefwechfel I 34 übergangen und bei fämmtlichen Briefen
Mutian's an Jonas ihren Abdruck in meinem ,Briefwechfel
des J.Jonas' verfchwiegen hat, ift mir fchwer verftändlich;
unbekannt konnten ihm diefe Bücher fchwerlich fein.

Kiel. G. Kawerau.

Rauwenhoff, f Prof. D. L. W. E., Religionsphilosophie.

Ueberfetzt u. hrsg. v. Lic. Dr. J. R. Hanne. Braun-
fchweig, Schwetfchke & Sohn, 1889. (XV, 607 S.
gr. 8.) M. 12. —

Die Religionsphilofophie von Rauwenhoff hat fchon
im holländifchen Original auch in Deutfchland lebhafte
Aufmerkfamkeit erweckt. Im Theologifchen Jahresbericht
von 1887 (S. 340—44) hat fie R. A. Lipfius befprochen,
und in den Jahrbüchern für proteftantifche Theologie
(XV, S. 1—54) wurde ihr zufammen mit der Religionsphilofophie
von J. Martineau von O. Pfteiderer eine ganze
Abhandlung gewidmet. Beide deutfehe Beurtheiler fpre-
chen fich fehr günftig über das Rauwenhoff'fche Werk
aus. Insbefondere rühmt Pfteiderer, obwohl deffen eigene
Religionsphilofophie von Rauwenhoff eine vielfach ablehnende
Kritik erfährt, dafs das Werk des holländifchen
Gelehrten fich nicht nur durch anfprechende Klarheit
der Darfteilung, vielfeitige Berückfichtigung des ein-
fchlägigen gelehrten Stoffes und wohlthuende Milde im
Urtheil über abweichende Meinungen mit fefter Ent-
fchiedenheit der eigenen Ueberzeugungen auszeichne,
fondern auch, wenigftens in feinem erften Theile, der
von der Entftehung und Entwickelung der Religion han-
I delt, für das Befte zu halten fei, das überhaupt bisher
über diefen Gegenftand gefügt worden. Auch der Unterzeichnete
zweifelt nicht daran, dafs die Religionsphilofophie
von Rauwenhoff fowohl durch ihren umfaffenden
Inhalt, als befonders durch die Nüchternheit und Schärfe
ihrer Gedanken, die auch in allgemein verbindlicher
und edler Form vorgetragen werden, auf lange hin in
der religionsphilofophifchen Literatur einen ehrenvollen
Platz behaupten wird.

In drei Theilen, welche die Ueberfchriften tragen:
Urfprung und Entwickelung — Wefen und Recht —
Erfcheinung der Religion und des religiöfen Glaubens,
wird der bezügliche Stoff vom Verfaffer behandelt.

Was zunächft den erften diefer Theile angeht, fo
' erklärt Rauwenhoff den Urfprung der Religion aus dem
Zufammentreffen des fittlichen Bewufstfeins im Menfchen
mit der naturiftifchen oder animiftifchen Weltanfchauung,
und er führt dies näher dahin aus, dafs die unter Religion
zu verftehende perfönliche Beziehung zu einer in
der Welt vorausgefetzten Macht bei jeder Weltanfchauung,
die eigentlich materialiftifche ausgenommen, habe entliehen
können. Die erlte Aeufserung religiöfen Glaubens