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Ausgabe:

1889

Spalte:

120-121

Autor/Hrsg.:

Fontaine, R. P.

Titel/Untertitel:

La chaire et l‘apologétique au dix-neuvième siècle, études critiques et portraits contemporains 1889

Rezensent:

Grünberg, Paul

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H9

Theologifche Literaturzeitung. 1889. Ni 5.

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Mit felbftändigen Unterfuchungen und Begründungen
giebt (ich Decker nicht ab. Er begnügt fich damit, aus
einer ,Wolke von Zeugen' die ihm paffenden Belege
herauszugreifen. Namentlich find ihm ,proteftantifche'
Zeugen willkommen. Die .Proteftanten', welche für ihn
fprechen, find aber entweder ganze oder halbe Conver-
titen oder Männer, deren gefchichtliches Urtheil durch
romantifche oder fonftige Eigenthümlichkeiten getrübt
ift — Guizot ift bei ihm, wie bei Burg, fehr beliebt —
oder endlich beweifen diefe proteftantifchen Zeugnifsc
weiter nichts als einen Sinn für gefchichtliche Gerechtigkeit
und Unparteilichkeit, wie er leider auf der anderen
Seite nicht fo leicht gefunden wird. — Nur einige cha-
rakteriftifche Einzelheiten: Ueber die heikle Frage der
Abfchaffung der Sklaverei durch die Kirche hilft D. fich
hinweg mit der fchönen Phrafe von einer ,/eu/eur provi-
dcntielle plutöt que ealculee'. Mit dem Begriff der ,Gewiffensfreiheit
' wird die bekannte Spiegelfechterei getrieben
. Weit beffer gefällt mir hier Burg, welcher
franchement erklärt, diefer Begriff fei mit dem katholifchen
Syftem unvereinbar. Der abfoluten Wahrheit gegenüber,
welche die Kirche befitzt, könne keine Freiheit gelaffen
werden. Als futrice des nations' bekämpft die Kirche
die Härefien. Dabei war fie ftets ,sans pitie pour /es
errcurs', aber ,pleine de misericordc pour les erranls'. Wer
dabei an die ,fpanifche Inquifition finfteren Angedenkens'
denken möchte, der laffe fich belehren, dafs abgefehen
von ,quelqucs faütes et quelques abus' die Kirche für diefe
mehr politifche Inftitution nicht verantwortlich zu machen
ift. Dem Ref. wenigftens neu war die Idee, dafs die
katholifche Kirche in ihrer Verfaffung, ihren Concilen etc.
das Mufter für politifche Verfaffung, parlamentarifche
und conftitutionelle Repräfentation abgegeben habe. Mit
der Reformation findet fich Verf. in der bekannten Weife
ab, ohne, wie es fcheint, den Meifter auf diefem Gebiet,
Janffen, zu kennen. Bezeichnend ift die naive Phrafe,
mit welcher D. fich ein näheres Eingehen auf die Reformation
erfpart: ,Je n'ai ni mission ni competence pour
examiner les questions theologiques soulevees par Luther et
par les autres reformatcurs'. Decker verfehlt nicht, an
die ,Mächte' einen Appell zu richten, allen aus dem modernen
Rationalismus hervorgehenden Gefahren gegenüber
einen Bund mit .Rom' zu fchliefsen. Bekanntlich
erblicken auch manche proteftantifche Politiker in einem
folchen Bund eine Förderung der ,confervativen Inter-
effen'. Solche Leute, wie auch die ,Mächte' felbft dürfte
es indeffen ftutzig machen, dafs der doch mindeftens eben
fo gut römifche Burg feinerfeits ganz offen eine Allianz
zwifchen der ,democratie moderne' und der ,religion catho-
lique' befürwortet (Burg p. 486).

Das Werk Blondeaux's ift ein in einer Art Fcuille-
tonftil gehaltener leidenfehaftlicher Ergufs aus den Kreifen
des franzöfifchen anticlerikalen Freidenkerthums. Jede
Seite des Buches zeigt, dafs ,Chriftenthum', ,Katholicis-
mus', ,Clerikalismus' etc. für den Verf. ziemlich iden-
tifche Dinge find. Nur an einer Stelle berückfichtigt er
überhaupt Luther und die Reformation, um von ihnen
zu fagen, dafs ihr einziges Verdienft darin beftanden
habe, den Nimbus der Hierarchie in etwas zu zerftören.
— Irgend eine fachliche oder chronologifche Ordnung
ift in dem Buche nicht durchgeführt. Arbeitet man fich
durch den ganzen Wuft manchmal geiftreicher, meift paradoxer
oder trivialer philofophifcher, pfychologifcher,
moralifcher. ethnologifcher und fonftiger Digreffionen
hindurch, fo ift der Kern der Sache etwa folgender:
Jefus war ein ideal angelegter Menfch, deffen moralifche
Intentionen für den Fortichritt der Menfchheit hätten
nutzbar gemacht werden können, wenn er nicht behaftet
gewefen wäre mit da croyance au surnaiurel, maladie mentale
de tont V Orient1. Paulus und Johannes bildeten diefen
grundverderblichen ,Dogmatismus' weiter aus. Die ,Kirche'
endlich mifsbrauchte denfelben, um Hand in Hand mit
den herrfchenden Gewalten ein Syftem der Knechtfchaft

aufzurichten, in welchem alle wirklichen Culturelementc
— Familie, Staat, Arbeit, Wiffenfchaft, Sittlichkeit -
auf's fchmählichfte beeinträchtigt wurden und noch werden
. Zugeftanden wird höchftens, dafs im populären,
gefühlsmäfsigen Chriftenthum, unabhängig vom ,Dogma',
hier und da ein Zug von wahrer Nächstenliebe etc. fich
erhalten hat, und dafs es unter der niederen Geiftlich-
keit fpeciell Frankreichs) manche giebt, die beffer find
als das Syftem, welchem fie dienen. Sehr unklar find
auch die philofophifchen Begriffe des Verf.'s. Während
er auf der einen Seite im Sinn des reinften Naturalismus
fagen kann: ,Cc qiion appelle nos vices, nos defauts, sont
des man leres oVetre äussi naturelles que oVautres1 (p. 108),
begeiftert er fich doch andererfeits fehr für Rechtfchaffen-
heit, Sittlichkeit u. dgl. — Eine derartig dilettantcnhaft
gezeichnete Carricatur der kirchengefchichtlichen Entwicklung
würde überhaupt keinen Anfpruch auf Beachtung
haben, wenn fie nicht ein fprechendes Zeugnifs
wäre für die geiftige Verwirrung, welche der Katholicis-
mus da anrichtet, wo man das Chriftenthum nur in Geftalt
der katholifchen Kirche kennt, fowie auch für die leichtfertige
Art, in welcher Leute, die fich doch des ,Pofitivis-
mus' rühmen, mit den Thatfachen umfpringen. Dabei
foll jedoch nicht geleugnet werden, dafs fich vereinzelte
fcharffinnige Bemerkungen und Beobachtungen

j in dem Buche finden, welche geeignet find, zum Nachdenken
über die mit dem Chriftenthum verbundenen fitt-
lichen und focialen Fragen anzuregen. — Am aller-
fchvvächften ift jedenfalls der Verf., wenn er zum Schlufs
feine pofitiven Verbefferungsvorfchläge macht. Trennung
der Kirche vom Staat, der Moral von der Religion,
das ift das Hauptrecept. Einen ganz befonderen Erfolg
verfpricht fich der Verf. u. A. von folgendem Mittel

: (p. 447): ,11 faut remanicr le eode civil, l'augmenter de
considerations et prescriptions murales s'adaptant a toutes

les conditions de famüle, de cite, de patrie1. Wenn das

i der langen Rede kurzer Sinn fein foll, fo gilt hier doch
gewifs das Wort: ,Parturiunt montes, nascetur ridiculus
mus'.

Alteckendorf (Elfafs). Paul Grünberg.

Fontaine, R. P. de la compagnie de Jesus, La chaire et
l'apologetique au dix-neuvieme siede, etudes critiques et
portraits contemporains. Paris, Letouzey et Ane,
[1887]. (XXIV, 371 S. 89 M. 3. 20.

Der erfte Theil diefes Werkes befchäftigt fich mit
j dem derzeitigen Zuftand der Kanzelberedtfamkeit in der
1 katholifchen Kirche Frankreichs. Diefelbe befindet fich
| nach den Wahrnehmungen des Verf.'s, der ,viel gehört
und ein wenig nachgedacht' hat, in einem beklagens-
werthen Verfall. Zwei Gefahren hauptfächlich drohen
I der Predigt der Gegenwart in Frankreich. Auf der einen
Seite das, was der Verf. nennt Japredicaüon naturalistd,
eine Art der Predigt, welche, unbewufst beeinflufst von
I der freidenkerifchen Philofophie des vorigen Jahrhunderts,
aus falfcher Accomodation an den Geift und Gefchmack
der Zeit, mit Vorliebe im Gebiet der fog. natürlichen
j Theologie' fich bewegt, während fie den fpeeififchen
j kirchlichen Offenbarungsgehalt, les dogmes superieurs, ver-
i fchweigt oder in rationalifirender Weife abfehwächt. Ein
| anderer bedenklicher Abweg ift die neuerdings zur Mode
gewordene ^Conference sociale', welche die Sache des Evan-
I geliums in ungehöriger und oft genug unhiftorifcher und
ungefchickter Weife mit focialen Zeit- und Streitfragen
verquickt und darüber das Hauptanliegen der chriftlichen
Predigt, die Sorge um das Heil der einzelnen Seele, ver-
nachläffigt. Verf. empfiehlt folchen Verirrungen gegenüber
eine ,katechiftifche Methode' der Lehrunterweifung
nach Anleitung des ,Catechismus Romanus' von 1566. In
feffelnder Weife illuftrirt der Verf. feine Ausftellungen an
der modernen Predigt durch charakteriftifche Beifpiele,