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Ausgabe:

1888

Spalte:

479-482

Autor/Hrsg.:

Wurster, Paul

Titel/Untertitel:

Gustav Werner‘s Leben und Wirken 1888

Rezensent:

Braun, Friedrich

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48o

Tie auch ,den fammelnden Rückhalt und centralen Ausgangspunkt
', ,den ihre Abhängigkeit von einer allgemein
getheilten Anfchauungsweife ihrer heiligen oder
rein idealen Aufgabe ihr einft gewährte.' In logifcher
Stetigkeit fchreitet die Entwickelung zum unbändigen,
wider die gefchichtlich überlieferten Formen und Kunft-
gefetze gerichteten Individualismus und Subjectivismus
fort, der die jetzigen zerfahrenen Zuftände erzeugt hat,
ein treues Spiegelbild der Entwickelung des Geifteslebens
überhaupt, die dem ,logifchen Gefetz des Abfteigens vom
Allgemeinen zum Befonderen folgt, das in der Mannigfaltigkeit
feines Wefens fchon Keime erzeugt einer fort-
fchreitenden Weiterentwicklung bis zur Zerfplitterung
und Auflöfung ins Einzelne.'

Unter diefem Gefichtspunkt wird nun die Entwickelung
von Bach und Händel bis zur Gegenwart in ihren
Hauptphafen verfolgt. Die Zeichnung der einzelnen
Perioden und Richtungen will uns nicht immer ganz
frei von Einfeitigkeit erfcheinen, ftets wird die Betrachtung
unter einem fo fcharf beftimmten Gefichtswinkel
dazu verleiten, in dem Bilde der Objectivität das eine
lchärfer zu fehen, das andere zu überfehen; um fo anregender
, weil da und dort (fo befonders im letzten Ab-
fchnitt) zum Widerfpruch reizend, wirkt die Darfteilung.
Das Refultat der Vergangenheit, das Ergebnifs der
neueften Entwickelung und die Hoffnung für die Zukunft
fafst Meinardus in die Schlufsworte zufammen: ,Eine
lebensfähige Zukunft kann der deutfchen Tonkunft nicht
erwachfen aus unferer modernen Vergötterung des Men-
fchen in der Kunft, fondern einzig und allein aus der
Verherrlichung des Göttlichen in der Kunft.' Dies Wort '
aus dem Munde eines ernften Tonkünftlers darf den i
Theologen zum Nachdenken veranlaffen und foll nicht
ungehört verhallen.

Friedberg. H. A. Köftlin.

Wurster, Repetent Dr. Paul, Gustav Werner's Leben und
Wirken. Nach meift ungedruckten Quellen dargehellt.
Reutlingen, Kocher, 1888. (VIII, 463 S. m. 1 Titelbild
, gr. 8.) M. 5.20; geb. M. 6.50.

Schon dreiviertel Jahre nach Werner's Hingang
(2. Auguft 1887) ih diefe Biographie erfchienen — ein
Buch von 463 Seiten, das nicht nur dem feiigen Menfchen-
freund ein fehr würdiges Denkmal fetzt und dem engeren
Kreis feiner Freunde und Anhänger vom höchften Werthe
fein mufs (,den Hausgenoffen des Bruderhaufes' ih es
gewidmet), fondern das auch feine bedeutfame Stelle
ausfüllt in der Gefchichte der Inneren Mifhon und in der
Kirchengefchichte diefes Jahrhunderts überhaupt — ih
doch, um dies gleich vorauszunehmen, z. B. die Frage
der Verpflichtung auf die Symbole in Werner's Conhict
mit der Württembergifchen Kirchenbehörde in bezeichnender
und energifcher Weife zum Ausdruck und Austrag
gekommen.

Entfprechend der Mannigfaltigkeit des Leferkreifes,
den das Buch zu erwarten hatte und auch thatfächlich
gefunden hat, und der Mannigfaltigkeit des Inhalts, den
Werner's Leben umfchliefst, weih die Haltung des Buches
felbh eine gewiffe Mannigfaltigkeit auf, die nicht wenig
zum Reiz der Leetüre beiträgt. Unter den 32 Capiteln
find viele in dem Ton einer frifchen ,chriftlichen Erzählung
für das Volk' gefchrieben (vgl. fchon die Capitel-
überfchriften: ,Der Wernerhamm' — hier werden wir
in fchwäbifch gemüthlicher Manier nicht nur mit den
Eltern, fondern auch mit den Grofseltern und dem Ur-
grofsvater Werner's bekannt gemacht —, ,Der Vikar in
Walddorf, ein Prediger aus dem Geih', ,Was im Revolutionsjahr
mit Werner gefchieht und was er von ihm
lernt', ,Durch's finhere Thal', ,Das Licht erlifcht' und
ähnliche); andere erfordern — wenighens zum vollen
Verhändnifs der einverleibten Urkunden — theologifche

Bildung; der Verfaffer felber nennt Capitel 14 ,Der letzte
Kampf mit der Kirchenbehörde und fein Ausgang' ein
Capitel hauptfächlich für Theologen. Wiederum in
anderen Theilen des Buches bekommen wir, wie dies
bei der Darheilung des Werkes Werner's unvermeidlich
ih, induhrielles und finanzielles Detail, finanzielles befonders
in den Capiteln, die fich mit der Ueberwindung
der ,Krifis' durch die Gründung des Actienvereins be-
fchäftigen, der die Mehrzahl der Werner'fchen Anhalten
übernahm und fo vor dem Zufammenbruch rettete, aber
freilich die freie Entfaltung der Ideen Werner's auch
fortan bedeutend hemmte und hemmen mufste. Was
auch Abfchnitte wie diefe letzteren, die an fich weniger
erquicklich find, geniefsbar und meih intereffant macht,
ih die ungemein lichtvolle, einfache Darhellungsweife des
Verfaffers, und das reichliche Durchwobenfein mit Reden,
Briefen und anderen Kundgebungen Werner's. Sie find ja
immer ergreifend, ob wir dabei in das Jauchzen und
Hoffen feines mächtigen, nie gebrochenen Optimismus,
oder in das Kämpfen und Ringen feiner weichen, taufend-
fach angefochtenen Seele hineinfehauen. Eine nächfte
Auflage verfpricht der Verfaffer mit folchen Werner'fchen
Originalmittheilungen noch reicher auszuhatten; und
aufserdem will er aus dem reichen fchriftlichen Nachlafs
Werner's, diefes grofsen Tröhers, ein befonderes Troft-
buch für Nothleidende und Kranke zufammenhellen.

Der Verfaffer ih ja in befonderer und eigentlich einzigartiger
Weife zu feinen Arbeiten über Werner aus-
gerühet als der unferes Wiffens Einzige Theologe, der
zu dem intimhen Kreife Werner's gehört hat, als der
,Phegefohn' und zeitweilige Gehilfe desfelben. Er hat
felber die eigenthümliche Luft chrihlicher Begeiherung,
Arbeitsluh, Thatkraft, Liebe und Weitherzigkeit cinge-
athmet, die im ,Bruderhaus' weht, und er vermag es darum
, mit der vollen Wärme, die hier hergehört, das Entheben
und Wachfen des grofsartigen Liebeswerkes aus
der Pcrfon Werner's heraus zur Anfchauung zu bringen.
Andererfeits hat er zu viel theologifche Klarheit und
Durchbildung, um Werner's eigenthümliche, zum Theil
fwedenborgianifch-rationalihifch gefärbte Lehrmeinungen,
befonders auf dem foteriologifchen und eschatologifchen
Gebiet, ohne Weiteres zu den feinigen zu machen. Wurhcr
verhält fich in Bezug auf diefe Punkte mehr referirend,
giebt auch zu, dafs Werner ,für die rechtliche Seite der
Kirchengemeinfchaft das volle Verhändnifs mangelte'
(S. 170). Allerdings nimmt er auf das Entfchicdenhe
feine Partei gegen die Anfeindungen und Denunciationen,
die fich in den 40er Jahren gegen Werner erhoben
(Capitel 12 ,Der Kampf mit Pietihen und Pfarrern'},
und die zu einer Art Ultimatum des Confiftoriums an
Werner, wonach er fich rückhaltlos zur Augsburgifchen
Confeffion bekennen follte, und nach deffen Ablehnung
zum Verbot der Benutzung von Kirchen und zum Aus-
fchlufs Werner's aus der Zahl der Predigtamtscandidaten
(nicht, wie es hie und da dargehellt wird, aus der Evan-
gelifchen Kirche) führten (Capitel 14 ,Der letzte Kampf
mit der Kirchenbehörde und fein Ausgang'). Man kann
nun allerdings jenen Verlauf mit dem Verfaffer tief bedauern
und die edle und mafsvolle Haltung Werner's
in dem Kampf und nach dem Kampf hoch anerkennen,
und doch der Meinung fein, dafs der Verfaffer zu weit
geht, wenn er (während er das Vorgehen des Confiftoriums
mild beurtheilt) in der Haltung der Pfarrer und
der pietihifchen Gemeinfchaften nur Befchränktheit und
Brutalität findet. Seine eigene, oben angeführte Bemerkung
auf S. 170 führt darauf, dafs Werner auch in praxi
hie und da — nicht aus böfem Willen oder Anmafsung,
aber doch in verwirrender und bedenklicher Weife — in
das Gefüge der kirchlichen Ordnung etwas ungenirt eingegriffen
hat, und dafs ernhliche und lautere Gewiffens-
bedenken gegen ihn fich geltend machen konnten. Der
Dekan Mofer z. B., der nach S. 13435 a's em bornirter
Fanatiker erfcheinen könnte, war in Wirklichkeit ein allem