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Ausgabe:

1888 Nr. 19

Spalte:

470-472

Autor/Hrsg.:

Clemen, Ad.

Titel/Untertitel:

Erinnerungen an Sicilien 1888

Rezensent:

Eck, Samuel

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Theologifche Literaturzeitung. 1888. Nr. 19.

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gewidmet werden, fpiegelt fich die Ueberrafchung, welche
fie den Lefern bereitet haben. Aber trotz des wenig
fchmeichelhaften Inhalts wird die Bedeutung derfelben
und der Geilt ihres Verfaffers mit wenig Ausnahmen anerkannt
, und in diefen Ausnahmen wird fein abfprechen-
des Urtheil, bezeichnend genug, auf Rechnung feines
caractere sombre, leiner triste philosopliie und Imagination
mclancolique gefchrieben. Aus England fehlen die Zeug-
nifse faft ganz. Hingegen kann fich Greyerz für die Bedeutung
der Briefe auf anerkennende Ausfprüche einer
ganzen Reihe namhafter deutfeher und fchweizerifcher
Schriftfteller beziehen (Gottfched, Dippel, Hagedorn, Haller,
Bodmer u. A).

Schon das bisher Angeführte würde genügen, um
bei theologifchen Lefern Intereffe für den Verfaffer der
Briefe zu wecken. Allein M. tritt zu uns in viel unmittelbarere
Beziehung. Er ift, dafs ich's kurz fage, im weiteren
Verlauf feines Lebens zum bedeutendften Vertreter
des myftifch-indifferenten Pietismus in der Schweiz geworden
. Ich glaube nach einem auch nur flüchtigen
Einblick in feine hierher gehörigen Schriften {Lettre
sur 1' esprit fort; L'instinct divin recommandc
aux homtnes; — beides 1727 8 —; Lettres fanatiques,
1739) mit diefem Urtheil nicht zu irren, wenn es auch
aus der vorliegenden Arbeit nur fehr ungenügend belegt
werden kann. Denn leider kommen den auf den Pietismus
M'.s bezüglichen Abfchnittcn (S. 15—31 und 81—99)
die Genauigkeit und die Kenntnifse nicht zu gut, welche
an den literarhiftorifchen Unterfuchungen des Verfaffers
gerühmt werden dürfen. Dafs er die pietiftifche Bewegung
in der Schweiz als eine von der Spcner'fchen lieh
,faft unabhängig bahnbrechende' charakterifirt, ift verhandlich
, da feine Gewährsmänner durchweg der gleichen
Meinung find, wiewohl an dem Lebensbild, welches Trech-
fel im Berner Tafchenbuch 1858 und 59 von Samuel Lutz
entworfen hat, fich der Einflufs Francke's bis in einzelne
kleine Züge hinein verfolgen läfst. Aber freilich die Bedingungen
waren zum grofsen Thcil die gleichen, nur dafs
für die Ausbreitung des myftifchcn Pietismus das Fort-
gähren der wiedertäuferifchen Elemente — gerade in der
Schweiz! — leider ganz aufser Anfatz bleibt. Verdacht
gegen die Genauigkeit des Verfaffers fchöpft man aber
fchon, wenn als die den Spener'fchen Pietismus kennzeichnenden
Dogmen neben dem 1000 jährigen Reich die
Erleuchtung der Wiedergebornen, die Rechtfertigung
durch den Glauben, die Vervollkommnungsfähigkcit des
Menfchen genannt werden. Mit gleicher Ungenauigkeit
wird die Vermuthung ausgefprochen, dafs für den Um-
fchwung in M.'s Entwicklung, die fich um 1700 vollzogen
haben mufs, möglicher Weife die deutfehe Herrnhuter-
gemeinde durch Friedrich von Wattenwyl (M.'s erfte Gemahlin
entflammte diefem Gefchlecht) von Einflufs ge-
wefen fein dürfte, während wohl weder ein Auftreten der
Herrnhuter in der Schweiz vor 1731 (f. Trechfel a. a.
O. 1859 S. 68 und 96), noch in der Denkweife M.'s auch
nur die leifefte Spur Zinzendorf'fcher Frömmigkeit nach-
gewiefen werden kann. M. wurde, der Vernachläffigung
des öffentlichen Gottesdienftes und des Umgangs mit
Pietiften überwiefen, aus Bern und in der Folge auch aus
Genf, wo er einen Apologue cn faveur de la Separation
du Culte Public de nos Eglises 1701 verfafste,
verbannt und lebte feitdem als hünfiedler in Colombiers
im Fürftenthum Neuenburg. Der Verfaffer meint, dafs
nun Jahrzehnte folgen, in denen fich keine begründeten
Vermuthungen über die geiftige Entwicklung M.'s auf-
flellen laffen, und ift nun höchft überrafcht, den bedeutenden
Mann im J. 1740 auf einer Reife anzutreffen, die
er auf einem Boot den Rhein hinab unter der Fuhrung
einer Infpirirtcn nach Solingen unternimmt. Anhangsweife
S. ICO—HO wird ein Brief feiner zweiten Gemahlin
mitgctheilt, der von den Abenteuern diefer Wafferfahrt
berichtet. Wenn man nun von der Anfchauung ausgegangen
ift, welche in dem nicht näher beftimmten Pietismus
die Reaction gegen eine in den grellften Farben
gezeichnete Verfunkenheit der Bernifchen Kirche fleht,
fo mufs diefes Refultat allerdings in Färftaunen fetzen:
,Der Schwärmer am Rande des Wahnfinns! Das ift ein
Bild, bei dem man nicht gern verweilt'. Allein es liegen
Anhaltspunkte genug vor, welche die geiftige Luft näher
beftimmen laffen, welche M. in Colombiers geathmet hat.
Hier fammelten fich ja unter dem Schutz des preufsifchen
Gouverneurs die verbannten Pietiften aus Bern, Zürich
u. a. ü. Nach Zürich führt der Name von M.'s zweiter
Gemahlin. Die Familien Rahn, Füfsli, Keller, welche hier
in Verbindung mit M. erfcheinen (S. 96 f. 101) kommen
ebenfo auch in den Züricher Pietiftenproceffen vor (s. Stu-
der, Jahrb. d. Hift. Gefellfch. Zür. Theol. 1877, S. 144.
173 f. 179 f.). In welcher Gefellfchaft fich alfo M. in Col.
befunden hat, konnte der Verf. wiffen oder in Kürze aus
Ritfchl's Gcfch. d. Piet. I, S. 495 ff. erfahren. Der Auf-
fatz von E. Ritter: fjeanne Bpnnet, ipisode de l'liistoire
du pictisme a Geneve' in den Etrenncs clireticnnes {Geneve
1886), auf den der Verfaffer in einem Nachtrag (S. 99)
verweift, wird diefes Bild nur im Einzelnen vervollftän-
digen können. Und wenn Greyerz (S. 26 Anm.) es bezweifelt
, dafs M. der ,seete des inspires1 angehört habe,
fo wird er im Recht fein, fofern damit die fogenannten
wahren Infpirationsgemeinden gemeint fein follen. Aber
gerade in der Schweiz haben ja die Falfchinfpirirtcn Rock
und feinen Anhängern grofse Noth bereitet, (f. Göbel
Ztfchr. f. hiftor. Theol. 1855, S. 129 h 137). Läfst man alfo
den irreführenden Namen ,Secte' fallen, gegen den der
Philadelphier M. eifert (f. Lettres fanat. I, S. 179: la tom-
bera cnfin /' Esprit de secte, qui est oppose de /' Amourfra-
ternel, la doivent tomber ceux qui nourissent et fortefient cel
Esprit), fo fleht der immer lofen Verbindung M.'s mit der
zahlreichen geiftigen Gemeinde von Infpirirten nichts im
Wege. Greyerz hätte fich aber auch von feinem Erftau-
nen über ,das feltfame Gemifch aufgeklärten Freifinns
und pietiftifchen Aberglaubens' in den Schriften M.'s erholen
können, wenn er in den betreffenden Abfchnitten
des II. Bandes von Ritfchl's Werk (s. namentlich S. 337)
die myftifchen Indifferentiften als Gefinnungsgenoffen M.'s
j kennen gelernt hätte, wozu fchon allein das anerkennende
Urtheil Dippel's (S. 73) hätte anleiten können. Ihm wäre
daraus allerdings die vielleicht fchwierige, aber gewifs
lohnende Aufgabe erwachfen, die felbftändige Stellung
zu kennzeichnen, welche M. innerhalb diefer Gruppe einnimmt
. Nicht nur auf das ,pfychologifche Geheimnifs'
feiner Schriften wäre durch die nähere Beftimmung diefes
Zufammenhangs Licht gefallen, fondern auch umgekehrt
würde die genauere Erkenntnifs der in diefem Rahmen
fich vollziehenden geiftigen Entwicklung M.'s vielleicht
nicht unwefentlich dazu beitragen, die gefchichtliche und
damit zugleich pfychologifche Folgerichtigkeit zur Anfchauung
zu bringen, in welcher bei einer fo grofsen
Anzahl von Zeitgenoffen fich der Bruch mit dem orthodoxen
Kirchenglaubcn nur in der F'orm des Uebergangs
zu eben jenem von dem Verfaffer fo bezeichneten Gemifch
von Freifinn und Aberglauben vollzogen hat. Der Hinweis
auf Herder (S. 36) reicht jedenfalls zur Löfung diefes
gefchichtlichen Problems nicht aus.

Die kurze Skizze M.'s von E. Blöfch fleht in der
Samml. Bern. Biogr. 1887, Bd. II (nicht I) H. 1, S. 1—7.

Rumpenheim. S. Eck.

Clemen, Paft. Ad., Erinnerungen an Sicilien. [Auffätze u.
Vorträge aus verfchiedenen Wiffensgebieten, 6. Bd.]
Wolfenbüttel, Zwifsler, 1887. (VII, 328 S. 8.) M. 3.—;
geb. M. 4.—

Ad. Clemen, gegenwärtig Paftor in Braunfchweig, ift
in den Jahren 1865—69 Prediger der deutfeh-evangelifchen
Gemeinde in Meffina gewefen. Während diefer Zeit hat
er Land und Leute eingehend kennen zu lernen Gelegen-