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Ausgabe:

1888

Spalte:

237-239

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Paul

Titel/Untertitel:

Christentum und Weltverneinung 1888

Rezensent:

Lobstein, Paul

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237

Faffung des Formal- und Materialprincips der Reforma- j Klarheit deutet. Dem Redner gilt vor Allen Tertullian
tion keineswegs unbedingt gefordert; vielmehr ift der als der Repräfentant der reinften Verneinung weltlicher
echte Kern der chriftlichen Religion, das Chriftenthum InterelTen und, was damit gleichbedeutend war, heid-
Chrifti, von allen jenen wunderbaren Zuthaten ablösbar , nifcher Cultur; das Bild der tertullianifchen Welt- und
und mufs davon freigeflellt werden. Die einzige, origi- J Lebensanficht bildet demnach den Ausgangspunkt der
nale Geiftesgröfse Jefu Chrifti hat der chriftlichen Religion [ Erörterungen des Verfaffers. Derfelbe findet eine .freund-
ihre unvergleichliche Bedeutung verliehen und ihren j lichere Anficht über das Weltleben' auf dem Gebiete
eigenthümlichen Inhalt gegeben. Diefe Erkenntnifs fichert j des griechifchen Chriftenthums unter den Aufpicien des
den wahrhaft Frommen innerhalb der chriftlichen Kirche , alexandrinifchcn Geiftes. Allerdings find Naturen wie
einen gemeinfamen Boden, auf welchem fich die confer- Origenes und fein Lehrer Clemens nichts weniger als
vativen Wundergläubigen fowie die Vertreter der mo- j harmonifche Einheiten, allein die tertullianifche Einfeitig-
dernen Freifinnigkeit die Hand reichen können, in dem j keit wird hier durch andere Factoren neutralifirt oder
Bewufstfein, dafs das, was die Gemüther einigt und ver- , ergänzt: die Askefe foll hier nicht mehr Darfteilung
bindet, gröfser ift, als das, was uns fcheidet. Selbft die j chriftlicher Reinheit im Gegenfatz gegen eine fatanifche
verfchiedene Deutung des Centraiwunders der evange- [ Welt, fie foll Uebung fein zum Vollbefitz der in der
lifchen Ueberlieferung, der Auferftehung Jefu Chrifti, ; Menfchenfeele vorzeitlich angelegten Willensfreiheit, ein

follte kein Grund des Zwiefpaltes im Schofse der chriff
liehen Gemeinde fein, denn wir alle dürfen einig fein
in der Ueberzeugung, dafs Jefus Chriftus unter uns lebt
und fortwirkt durch feinen Geift und feine Wahrheit

.reinigendes Handeln', wie neuplatonil'che und chriftliche
Gefichtspunkte es gleichermafsen fordern. Und im Ue-
brigen gewinnt nun das Vertrauen zu Menfchennatur und
Weltleben unter der Vorausfetzung .chriftlicher Päda-

Und das ift feine Auferftehung. — Aus diefer Inhalts- I rode' zufehenri* an l-lar«,- r,

angäbe erhellt, dafs vorliegender Auffatz durchaus nichts ftung Dw^SiS^^^A^i beU,ufster BeSru"
neues bietet. Der hier vertretene Standpunkt ift der des hunderbT befteM iinertf ""d.vierten Jahrlandläufigen
Liberalismus, welcher fich der hergebrachten dem Einflufs der realen SSchte^SmiÄ^f*0'
Argumente bedient und d.e allbekannten Schlagwörter ; immer nur wachsenden Zuve ficht zu W h I",Per!unls
führt. Es mufs anerkannt werden, dafs die Sprache eine - der immer zunehmende S p f a "nd,Le°en;

durchaus würdige ift. und dafs fich der Verfaffer beftrebt 1 Sehe ShS des n mm.üV tS? g Und~der fchliefs"

dem Gegner nach allen Seiten hin gerecht zu werden Süden den dSktoZ Ä ^™thrchtern Chriftenthums
Indeffen-hat er die Frage felbft, um welche fich der Streit , taSSiSa^SS^SSb^aS 2* 7?"
bewegt, in keinerlei Weife gefördert. Und auf dem me£3fi£S^^äSSSS^^^f^ tA^ia
Wege, den B. eingefchlagen hat, ift auch eine folche 1 beiden Strhmn^n f i . r L — ,Vydche von diefen
Förderung nicht zu erzielen. Wie' kann die von ihm ge^ cu ^ od- d"

forderte Freiftellung des fittlich-religiöfen Kernes der ! chfSSTG*hJt, verweltl'chte". * nun d.e wefentlich
chriftlichen Wahrheit erfolgreich durchgeführtwerden'1 ' ' wir zurück vor die Epoche, von welcher

fo lange man, bei der Frageftellung, über die unglückliche
und unfruchtbare Verquickung des religiöfen Erkennens
mit den theoretifchen Problemen der Metaphyfik
und des natürlichen Welterkennens nicht hinauskommt?
Es ift eine in vielen liberalen Kreifen immer wieder auftauchende
Illufion, wenn man fich der Hoffnung hingiebt
dafs eine eingehende, auch hier verfuchte Auseinander-
fetzung mit der Naturwiffenfchaft, welche fich des Wunderglaubens
erledigt, den berechtigten Anfprüchen des
naturwifienfehaftlich gefchulten modernen Bewufstfeins
Genüge leiften wird: will man einmal den Mafsftab des
naturwiffenfehaftlichen Welterkennens anlegen, fo kann
fchlechterdings nicht einleuchten, wie der perfönliche
Geift und der überweltliche Gott vor diefem Forum eher
Gnade finden werden als die biblifchen Wunder. Der
Gegenfatz, welchen der Redner zum Ausdruck bringt,
liegt viel tiefer als er es angedeutet hat, und es müffen
hier die Probleme bis auf ihre letzten Entftehungsgründe
zurückverfolgt werden; fonft bewegen wir uns immer
noch auf dem unfruchtbaren Boden einer oberflächlichen
Polemik und einer kraftlofen Schein-Apologetik.
Strafsburg i/E. P- Lobftein.

Schmidt. Prof. Dr. Paul, Christentum und Weltverneinung.

Rektoratsrede. Bafel, Schwabe, 1888. (37 S. gr. 8.)
M. 1. —

Ift Weltflucht das letzte Wort der chriftlichen Sittlichkeit
? Ift der Pietismus der eigentliche Confervator
der fonft verblichenen urchriftlichen Lebensanficht? —
Um diefe in neuefter Zeit öfters verhandelte, durch namhafte
Culturhiftoriker und Philofophen bejahte Frage zu
löfen nimmt der Redner feinen Standort innerhalb der
Wendezeit des zweiten und dritten chriftlichen Jahrhunderts
_ein Verfahren, welches gerade defshalb als vollkommen
berechtigt erfcheinen mufs, weil die Betrachtung
der Gefchichte der werdenden Kirche uns jenen Satz
.Chriftenthum gleich Weltverneinung' mit befonderer

wir unfern Ausgangspunkt nehmen, fo werden wir vor
das erhabene Product chriftlicher Gnofis, das vierte
Evangelium, und weiter zurück vor die paulinifchen Briefe
geftellt. Schmidt findet in der apoftolifchen Zeit felbft
die hervorbringende Quelle all' derZwiefpältigkeit.zwifchen
deren widerfprechenden Kundgebungen wir bisher hin
und her geworfen werden. Diefe eigenthümlichc Doppel-
ftellung, diefes Ringen widerfprechender religiös-fittlicher
Beftrebungen ift in der Gedankenwelt des Apoftels Paulus
befonders anfehaulich. Somit gelangt der Verfaffer vor
eine letzte Inftanz, zum Glück nach allgemein chriftlichem
Recht die entfeheidende. Das Ergebnifs der Unter-
fuchung über das Verhalten Jefu wird dahin formulirt,
dafs ,das Evangelium die unbedingte Hegemonie der
religiös-fittlichen InterelTen begründet, fo dafs gegen den
Ruin der Seele alle fonftigen Weltwerthe nichts wiegen.
Aber dafs der in Gott gegründete Menfch diefe Werthe
an fich für nichtig halten müffe oder nur achtlos verwalten
dürfe, davon ift die chriftliche Lehre die reine
Verneinung'. Zu diefem Refultat gelangt der Redner
durch eine m. E. hiftorifch nicht gerechtfertigte Depo-
tenzirung und Spiritualifirung des Wiederkunftsgedankens
Jefu: aus dem Lebenswerk Jefu, aus dem Inhalt feines
Evangeliums und aus feinem perfönlichen meflianifchen
Anfpruch foll erhellen, dafs Jefus unmöglich feine baldige
fichtbarc Wiederkunft geglaubt haben kann. — Die hohe
Wichtigkeit diefes Gegenftandes und feine Tragweite fo-
wohl für das hiftorifche Vcrftändnifs der Grundanfchau-
ungen Jefu und der neuteftamentlichen Schriftfteller, als
für die praktifche Verwerthung der religiös-fittlichen Factoren
des Chriftenthums, würde zu einer eingehenden
Auseinanderfetzung mit dem Verfaffer einladen. Da ich
mir eine folche an diefem Orte vertagen mufs, fo möge
vorläufig nur auf Folgendes hingewiefen werden. Der
von S. eingefchlagene regreffive Weg ift fragelos der
zuverläffigfte und zugleich der anfehaulichfte; durch Anwendung
diefer Methode gelingt es vor allem, den Lefer
allmählich vor die Frage zu führen, welche das Haupt-
intereffe der neuteftamentlichen Ethik bildet: Kennt die
urchriftliche Ethik im eigentlichen Sinne felbftändige fitt-