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Ausgabe:

1887

Spalte:

605-607

Autor/Hrsg.:

Gass, W.

Titel/Untertitel:

Geschichte der christlichen Ethik. 2. Bd. 2 Abthlgn 1887

Rezensent:

Thoenes, Karl

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605

den kann, und als er dort die Erfahrung der Theilnahme
an Chrifti oder Gottes Leben in den durch dies Glau-
bensurtheil hervorgerufenen activen Functionen des
Sünde, Welt, Tod überwindenden fieghaften Muthes und
der durch Undank oder Bosheit nicht beirrten Liebe aufweift
, und als endlich Luther's von K. gegen R. betonte
Verneinung, dafs die Chriften nur voluntate Christo vereinigt
feien, gegen den fcholaftifchen Standpunkt des
blofsen Hifiorienglaubens und der gefetzlichen Nachahmung
Chrifti gerichtet ift, den K. feltfamerweife R. zuzutrauen
fchcint.

Befonderen Dank aber find wir K. dafür fchuldig,
dafs er aus dem N. T. und Luther den Nachweis geführt
hat, wie die Chriften als Angehörige Chrifti und Kinder
Gottes bereits in gliedlichem Zufammenhang ftehen, eine
Einheit fchon find, es nicht erft durch die Richtung
ihres Willens auf gemeinfame Zwecke hin werden follen.
Nun wird ja wohl der Vorwurf verftummen, dafs es ka-
tholifirend fei, wenn R. die begriffliche Ueberordnung
der Gemeinde über die einzelnen Chriften lehrt. Denn
wenn das Ziel der Liebesabficht Chrifti, unfcre Gottes-
kindfchaft, die gliedliche Einheit der Gotteskinder unmittelbar
einfchliefst, fo wird man jene erft dann deutlich
gemacht haben, wenn man zeigt, dafs fie auf Gründung
einer Gemeinde von Gotteskindern geht. Nur das ilt
befremdlich, dafs K. fagt, er habe bei den citirten Stellen
Luther's über die Lebensgemcinfchaft mit Chriftus
von der Kirche nicht geredet, weil Luther felbft dort
nicht davon rede. Dafs Luther fonft unzählige Male den
Ehebund Chrifti als einen folchcn mit der Gemeinde be-
fchreibt, der dann natürlich auch für ihre einzelnen Glieder
gilt, und dafs Luther oft genug die Zugehörigkeit
zur Gemeinde als Grund der perfönlichen Heilsgewifsheit
verwerthet, darf ich K. nicht erft fagen; aber auch in
den von ihm citirten Stellen tritt doch der vollftändig
glcichwerthige Gedanke, dafs die Gläubigen Chrifti Glied-
mafsen find, deutlich genug hervor.

Giefsen. J. Gottfchick.

Gass, Dr. W., Geschichte der christlichen Ethik. 2. Bd.

2Abthlgn. Berlin, G. Reimer, 1886 u. 87. XVI, 372
u. XVI, (386 S. gr.8.) M. 13.-

Schon im Jahre 1881 erfchien der erfte Theil des
Gafs'fchen Werkes. Die Weitläufigkeit und Schwierigkeit
des Gegcnftandes, fowie die Dringlichkeit einiger
Nebenarbeiten bezeichnet der Verf. als die Urfachen,
welche das Erfcheinen der beiden Abtheilungen des
zweiten Bandes verzögert hätten.

Der Herr Referent in der Anzeige des erften Bandes
(1882 Nr. 3) wies darauf hin, dafs der Verf. zu den einzelnen
Perioden jedesmal zuerfl den Abrifs einer Sitten-
gefchichte gebe und fodann mehr eine Literaturgefchichte
der Ethik) als eine eigentliche Gefchichte der ethifchen
Wiffenfchaft folgen laffe. Diefer Methode ift er auch im
zweiten Bande treu geblieben; die Anlage des Ganzen,
so fagt er felbft, habe fchon der Uebereinftimmung halber
auch im zweiten Bande feftgehalten werden müffen.
Wenn er dann aber hinzufugt, dafs eben die Literatur
ihn in den Stand gefetzt, von der Lehre aus auch dem Leben
näher zu treten, und dafs er bemüht gewefen fei, in den
Einleitungen zu den einzelnen Abfchnitten durch Schilderung
des jZuftändlichen' der zugehörigen Zeiträume
auf Grund nächltliegender Materialien feiner Darfteilung
mehr Breite, Abwechfelung und Lebendigkeit zu verleihen
, fo ift es zwar anzuerkennen, dafs wir einen trocknen
blofsen Bericht über die ethifche Literatur nicht empfangen
, aber der Eindruck bleibt, dafs dennoch der
vorwiegende Charakter des Werkes der einer Materialien-
fammlung ift, und ich weifs nicht, ob der Herr Verf.
nicht beffer daran gethan hätte, nach dem Vorgange De
Wette's, Neander's u. a. mehr fyftematifch zu verfahren.

Es ift ein fehr reichhaltiges Material, welches auch
im zweiten Bande des Gafs'fchen Werkes gefammelt ift,

! und meiftens ift dasfelbe aus den Quellen felber ge
fchöpft, wenn es auch bei dem grofsen Umfange der

1 bezüglichen Literatur nicht zu umgehen war, hie und
da den Stoff aus zweiter Hand zu nehmen. Wichtigere
Sätze der betreffenden Schriften find öfter am Schluffe
der einzelnen Abfchnitte wörtlich ausgehoben.

Der gefammte Stoff ift in zwei grofse Hauptabtheilungen
zerlegt, von denen die erfte das XVI. und XVII.
Jahrhundert oder ,die vorherrfchend kirchliche Ethik',

j die zweite das XVIII. und XIX. Jahrhundert oder die

,philofophifche und theologifche Ethik' behandelt.

Was den erften Haupttheil betrifft, fo befpricht die
Einleitung desfclben den Humanismus und die Reformation
, und die drei Hauptabfchnitte tragen die Ueber-
fchriften: ,Grundlegung und Anfänge der proteftantifchen

Ethik', ,die Ethik im Zeitalter des Confeffionalismus' und
,deutfche Religionsbcwegungen und Fortbildung der
Ethik'. Die Grundlegung und Anfänge der proteftantifchen
Ethik werden aufgezeigt in den reformatorifchen
Perfönlichkeiten, den Bekenntnifsfchriften und erften Entwürfen
einer Ethik; die Ethik im Zeitalter des Confeffionalismus
wird cnaraktcrifirt durch ref. Ethiker, wie
Keckermann, Amcfius, Amyraut, Alfted u. a., lutherifche,
wie Joh. Gerhard, Balduin, V. Andreae, Joh. Arndt u. a.,
und was die katholifche Kirche angeht, durch das Tri-

: dentinum, die Jefuitenmoral, den Janfenismus, die Myftik

; und das Mönchthum, fowie durch fpätere Moraliften, wie
Natalis Alexander, Tournely u. a. Der dritte Hauptab-
fchnitt endlich handelt vom fynkretiftifchen Streit, vom

| .Pietismus und was ihm ähnlich', vom deutfehen Pietismus,
von der Fortbildung der Ethik, von der reformirten Li-

: teratur, vom Ethifchen in den kleinen Religionsgefell-

| fchaften und der griechifchen Kirche.

Der zweite Haupttheil behandelt in fünf Hauptab-
fchnitten 1. die vorkantifche Pffvtwicklung, 2. Kant und
feine Epoche, 3. die katholifche Moraltheologie, 4. die
fpeculativen Schulen, 5. die Literatur der Neuzeit. Die
vorkantifche Pintwicklung wird aufgezeigt im englifchen
und fchottifchen Empirismus, den franzöfifchen Moraliften,
wie Malebranche und Geulinx, P. Bayle, Plelvetius u. a.,
in der deutfehen Wiffenfchaft und Aufklärung und im
Fortbeftande der deutfehen theologifchen Ethik. Im
zweiten Hauptabfchnitt werden Kant und Pichte, die
theol. moraliürenden Kantianer und fortbildende Lehrer,
wie Stäudlin, Ammon, de Wette und Baumgarten-Crufius
behandelt. Angriff und Vertheidigung des Jefuitismus,
philofophifche und religiöfe Einflüffe auf den Katholicis-
mus, religiös veredelte Kirchlichkeit, wie fie vorzüglich
durch Sailer und Hirfcher vertreten wurde, find die Themata
, welche im dritten Abfchnitt befprochen werden.
Die Abtheilungen des vierten werden durch die Namen
Sendling — Hegel — Daub, Marheineke — Wirth,

| Vatke; Herbart — Schleiermacher, Rothe — Chalybäus,
J. H. Pichte bezeichnet, und der fünfte endlich handelt
nach einander von Harlefs, Vilmar, Wuttke, Chr. Fr.Schmid,
Palmer, Beck — Martenfen, von Oeffingen, Dorner, Pflei-
derer — Schuppe, Steinthal, Wundt, Lotze — Schopen-

' hauer, von Hartmann — Darwinismus und Pofitivismus.
Aus diefer Ueberficht über den Inhalt des Werkes
geht hervor, dafs nichts Wefentliches auf dem in Betracht
kommenden Gebiete übergangen ift; auch dürften die
meinen Vertreter evang.-theol. Ethik in der Gegenwart
im allgemeinen dem fachlichen Urtheil zuffimmen, welches
der Herr Verfaffer über die einzelnen Erfchcinungen
fällt, mit denen es feine Darffellung zu thun hat. Seine
Kritik iff fachlich, und es trifft zu, wenn er fagt, dafs er

I in feiner Berichterfiattung im ganzen das Gute hervorgehoben
und in dem Abweichenden und Gegenfätzlichen
wieder das Fördernde betont habe.

1 Einigermafsen auffällig irt es, dafs er wiederholt Ge-

| legenheit nimmt, gegen Ritfehl zu polemifiren, wie uns