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Ausgabe:

1887

Spalte:

452-454

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Theodor

Titel/Untertitel:

Leitfaden der inneren Mission zunächst für den Berufsunterricht in Brüder-, Diakonen- und Diakonissen-Anstalten 1887

Rezensent:

Schlosser, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1887. Nr. ig.

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die Identificirung des kirchlichen Liberalismus mit den
Beflrebungen der (politifchen) deutfch-freifinnigen Partei
zurück; er proteftirt gegen die Verdächtigung, es fei bei
den Beftrebungen der Liberalen darauf abgefehen, die
Pfarrer aus der führenden Stellung in den Gemeinden
zu verdrängen; er betont, dafs die liberal-kirchliche
Partei nicht eine antikirchliche Partei fei, fondern in
eminentem Sinne eine kirchliche Partei, nicht eine Partei
der Negation, fondern durchaus gerichtet auf die Stärkung
der Kirche. In all dem wird man dem Verfaffer
unbedingt zuftimmen müffen, und um fo zuverfichtlicher,
weil er keineswegs blind ift gegen die Unfähigkeit der
,freifinnigen Geiftlichen', die vorhandene Krifis zu be-
fchwören. Auch darin wird der Verfaffer Recht behalten,
dafs eine blofse Verfaffungsänderung, fei es um den
Einflufs des hierarchifch zu gliedernden Pfarramtes, fei
es um den Einflufs des Laienelementes zu erhöhen, das
gefuchte Heilmittel für die Schäden der evangelifchen
Kirche nicht darbietet. Wenn er dagegen der Ausdehnung
werkthätiger Nächftenliebe nach Innen und
Aufsen, wenn er namentlich der Einrichtung einer Art
theologifchen Referendariates (im Gegenfatze zu der
Ausbildung jüngerer Pfarrer auf Seminaren) das Wort
redet, fo giebt er damit einen Beweis von tief und klar
fehender kirchlicher Weisheit und Befonnenheit. Aber,
wenn er dann des Weiteren ausführt, dafs die letzte
Urfache des vorhandenen Uebels zu fuchen fei in dem
Widerftreit zwifchen der kirchlichen Lehre (in Sonderheit
Wunderglaube und Gottheit Chrifti) und denjenigen
Anfchauungen, welche das Volk als unwiderlegliche Er-
gebniffe der Wiffenfchaft, als unumftöfsliche Thatfachen
betrachtet, wenn er fodann die Forderung erhebt, die
Kirche folle darauf verzichten, den Glauben an (fic) ihre
Dogmen als einen unerläfslichen Beflandtheil des chrilt-
lichen Glaubens hinzuftellen, dafs fle aufhöre, ihre
Dogmen als einen nothwendigen Theil unferer Religion
anzufehen, fo ift dabei Wahres und Falfches fo fehr mit
einander vermifcht, dafs wir dem Verfaffer nicht zu
folgen vermögen, gewifs uns nicht die Löfung aller
innerkirchlichen Wirren davon verfprechen, dafs der
Weg, auf welchen er weift, betreten werde. Gewifs,
dem Volke gebührt nicht Theologie, fondern Religion,
nicht Dogma, fondern religiöfe Erfahrung — man kann
von den Lehren über Jefum an Jefum felbft appelliren;
würde proteftantifches Kirchenrecht das hindern wollen,
fo müfste es abgeändert werden; mit dem Wefen des
Chriftenthums aber ift das fo wenig unvereinbar, dafs
es einen folchen Procefs geradezu fordert {cf. p. 13 ff.).
Aber abfehen von ihren Dogmen, das kann die Kirche
einfach nicht; denn die Dogmen find nichts anderes als
der mehr oder weniger glückliche Verfuch, den Inhalt
des chriftlich religiöfen Bewufstfeins wiffenfchaftlich zu
verarbeiten und darzuftellen und mit dem Gefammt-
refultat menfchlicher Forfchung in fjebereinftimmung zu
fetzen! Zurück zu Jefu einfacher Lehre! Aber was ift
der Inhalt diefer Lehre? Ift fle nicht zu grofsem Theile
Selbftzeugnifs Chrifti? und was ift die Lehre ohne die
Perfon? Erft von der Perfon empfängt fle Kraft und
Nachdruck, und wer von der Lehre in feinem Innerften
ergriffen wird, dem werden fleh alsbald die Fragen nach
der Perfon Chrifti von Neuem ftellen, welche die alte
Kirche mit den ihr zu Gebote flehenden Mitteln, gewifs
nicht endgültig für alle Zeiten, wir räumen es ein, auch
nicht befriedigend für unfere Zeit zu beantworten bemüht
gewefen ift. Soll die proteftantifche Kirche gekräftigt
werden, fo dürfen deshalb ihre Vertreter fleh
nicht daran genügen laffen, der Gemeinde gegenwärtig
zu halten, was Jefus gelehrt hat — fle müffen ihr die
That Jefu bezeugen, die That, welche in feinem Leiden
und Sterben fleh vollendet — eine That, welche an
Jedem und von Jedem auch heute noch gefchehen mufs,
der ein Bürger des Gottesreiches werden foll. Die Gottheit
Chrifti, um diefen allerdings mifsverfländlichen

Ausdruck zu gebrauchen, bleibt ein Poftulat des chrifl-
lichen Bewufstfeins, auch wenn alle bisherigen Verflache,
fle zu begreifen und darzuftellen, fleh als unzulänglich,
ja als irrig erweifen follten; und der chriftliche Glaube
wird Wunder fehen, auch wenn er die Refultate gefchicht-
licher und naturwiffenfehaftlicher Erkenntnifs vollauf
anerkennt. Freilich, fo lange die Theologen fleh nicht
befcheiden, blofs chriftlich religiöfe Wahrheit auszu-
fprechen, wird man es Nichttheologen nicht verübeln
dürfen, wenn fle in Gefahr gerathen, in ihrem Kampf
gegen die theologifchen Aufsenwerke auch die Erfahrung
des chriftlichen Glaubens zu verkennen and zu befehden.
—■ Hat fomit der Verfaffer nach unferem Dafürhalten
den Weg nicht gefunden, auf welchem wir zum Ziele
gelangen, fo dürfen wir doch noch einmal unferer Freude
darüber Ausdruck geben, dafs er fleh unter die Pfad-
fucher begeben hat.

Frankfurt a/M. Ehlers.

Schäfer, Diakon.-Anft.-Vorft. Paft. Thdr., Leitfaden der
inneren Mission zunächft für den Berufsunterricht in
Brüder-, Diakonen- und Diakoniffen-Anftalten. Hamburg
, Agentur des Rauhen Haufes, 1887. (XII, 247
S. gr. 8.) M. 3.60; geb. M, 4.20.

Vorliegender Leitfaden ift aus dem von dem Verf.
den Brüdern des Rauhen Haufes ertheilten Berufsunterricht
erwachfen, und ift, wie auch der Titel befagt, zunächft
für die Zwecke folchen Berufsunterrichts benimmt.
Dem entfprechend ift es in dem Buch nicht auf wiffen-
fchaftliche Syftematik abgefehen, vielmehr ift der Stoff
nach pädagogifchen Rückflchten fo gruppirt, dafs Verwandtes
unter einigen gröfseren Gefichtspunkten zufam-
mengefafst aneinander gereiht ift. Der Verf. hat dabei
den in feinem gröfseren Werk über die weibliche Diakonie
bereits bewährten Gang eingehalten, zuerft die Ge-
fchichte, dann die Arbeit, endlich die Arbeitskräfte
der inneren Miffion darzuftellen. Den weitaus gröfsten
Raum nimmt natürlich die üarftellung der Arbeit der
inneren Miffion ein. In fieben Capiteln werden darin:
Erziehung und Unterricht von Kindern, Erziehung
und Bewahrung der Jugend, Rettung der Verlorenen
, Bewahrung der Gefährdeten (einfchliefslich
der Diafporapflege), Pflege der Gebrechlichen und
Kranken, Verbreitung der chriftlichen Literatur,
Kampf gegen fociale Nothftände (hierunter auch
die Schulfrage), behandelt. Jeder Paragraph zerfällt
wiederum in fechs flehende Abfchnitte: Nothftand, Ge-
fchichte, Einrichtung und Arbeit, Schwierigkeit und Gefahren
, Verwandte und Hilfseinrichtungen, Ziel und Segen.
Bringt diefe Eintheilung auch hie und da Wiederholungen
mit fleh, fo ift doch klar, wie förderlich dem unterrichtlichen
Zweck des Buches fle ift, wie fehr fle den
Ueberblick und die Einprägung der Thatfachen erleichtert
. Auch in der Auswahl des Stoffes, befonders in den
gefchichtlichen Partien, bewährt der Verf. nicht minder
feinen guten pädagogifchen Takt, als feine gründliche Be-
herrfchung des geflammten Gebietes. Die Darfteilung ift
klar und bündig, die Mittheilung der Thatfachen von gewohnter
Zuverläffigkeit. Die Schrift erfcheint darum
nicht blofs für ihren nächften Zweck des Berufsunterrichts
trefflich geeignet, fondern ftellt fleh gewiffermafsen
als ein Gegenftück zu Wameck's: ,Die Miffion in der
Schule' dar, das Geiftlichen und Lehrern für die Behandlung
der inneren Miffion im Religions- und Confirmanden-
unterricht gute Dienfte leiden kann.

Als Zeichen des Intereffes, mit welchem Referent
das Werkchen gelefen, möge Verf. auch einige kleine
Anftände betrachten, die um der Sache willen Erwähnung
fordern.

Der erfte betrifft feine Definition der inneren Miffion
in dem einleitenden Paragraphen. Er führt darin aus,