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Ausgabe:

1882 Nr. 17

Spalte:

398-400

Autor/Hrsg.:

Dieckhoff, Aug. Wilh.

Titel/Untertitel:

Die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Ein Votum über die Theologie Ritschl‘s 1882

Rezensent:

Herrmann, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 17.

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Die Bifchöfe hatten in Rufsland eine viel hervorragendere
Stellung, als in Griechenland. Ihre und der Geift-
lichkeit Verhältnifse werden eingehend erörtert. Die
Anknüpfung der Beziehungen zu Byzanz fieht G. aus
dem Wunfeh Wladimir's hervorgegangen, Bildung in
Rufsland einzubürgern. Jedoch zu irgendwie dauernder
Verwirklichung vermochte derfelbe nicht zu gelangen,
nur eine höchft elementare Kenntnifs fand Eingang und
fo blieb es bis auf Peter d. Gr. Die Pfleger diefer Kenntnifs
find die Geiftlichen, öffentliche Schulen gab es jedoch
nicht in der vormongolifchen Periode. Die Literatur
beftand zunächft in zahlreichen Ueberfetzungen, in
Bulgarien zumeifl angefertigt, und die Ueberficht, welche
G. hiervon giebt (Bd. I, S. 715—757), hl höchft dankens-
werth. Die eigene fchriftftellerifche Thätigkeit Rufslands
wird durch eine nicht grofse Reihe von Productionen
repräfentirt, in denen jedoch G. keinerlei hiftorifchen
Eortfchritt zu conftatiren vermag. Gerechtfertigt ift aber
das Lob, welches er der Rede des Metropoliten Hilarion
,Ueber Gefetz und Gnade' unter Jaroslaw fpendet, fie ift
eine wirklich bedeutende Leiftung. — Befondere Sorgfalt
hat G. auf die Behandlung der cultifchen Seite der
Kirche verwandt: S. 1—212 des 2. Bandes ift allein den
gottesdicnftlichen Gebäuden gewidmet (die Mittheilungen
über die altchriftlichen Kirchen bedürfen einiger Zu-
rechtftellung), und S. 251—281 folgt noch ein Ver-
zeichnifs der fteinernen Kirchen diefer Periode; der Got-
tesdienft felbft ift dann S. 282—451 behandelt. Ebenfo
wird das Mönchthum II, 452—684 forgfältig aber unbefangen
unterfucht, obwohl natürlich auch G. im Mönch
den vollkommenen Chriften erblickt. Aber ungefcheut
gefleht er zu, wie wenig im Ganzen das ruffifche
Mönchthum der vormongolifchen Periode dem Mönchsideal
entfprach. Die durch den Abt Theodofius im
kiewfchen Höhlenklofter eingeführte Studitenregel mit
der Form gemeinfamen Lebens der Mönche ift felbft
hier nicht ftreng feftgehalten worden. In den ruffifchen
Klöftern wurde auch nicht wie im Abendland die Her-
ftellung einer Klofterbibliothek und die Pflege wiffen-
fchaftlicher Kenntnifse angeftrebt (I, 611). (Wie fehr
überhaupt in der altruffifchen Kirche das Leben des
Mönches als das faft ausfchliefslich chriftliche angefehen
ward, obwohl nicht ohne-jeden energifchen Widerfpruch,
hat auchDubakin, ,Der Einflufs des Chriftenthums auf
das Familienleben der ruffifchen Gefellfchaft', 1880, gezeigt
.) Wie es zu einem folchen fcheinbaren Mönch-
thuni kommen konnte, verficht man, wenn im Paterikon
des Höhlenklofters von der unverbrüchlichen Zufage des
Stifters erzählt wird, dafs kein als Mönch diefes Klofters
Sterbender werde verloren gehen (vgl. den Auszug I,
635). _ Häretifcher Verfuche war für diefen Zeitraum
faft nicht zu gedenken, denn die Härefic des Mönchs
Martin, von welcher man zu erzählen pflegt, ift eine
recht ungefchickte Erfindung Pitirim's im Streit mit den
fog. Altritualiften. Um fo eifriger bemühten fleh die
Leiter der Kirche mit der Bekämpfung der ,Lateiner', j
obwohl damals Rufsland noch viel engere Beziehungen
zum Abendland unterhielt, als Jahrhunderte fpäterhin. —
Der Unterricht des Volkes in den Glaubenswahrheiten
lag vollftändig darnieder, befafsen doch die Geiftlichen ■
felbft faft durchweg keine Bildung. Dem Unterricht
durch den Cultus kann Gol. keine hohe Bedeutung bei-
meffen; war doch auch die gottesdienftfiche Sprache
nicht die ruffifche, fondern die altbulgarifche. Daher
dauerte auch die Verehrung der heidnifchen Götter neben
der Anbetung des Chriftengottes und feiner Heiligen
bei der grofsen Maffe des Volkes zunächft ungeftört
fort Als aber auch mit der Zeit der Dienft der Götter
verfchwand, da blieben doch heidnifche Feiern, Gewohnheiten
und Gebräuche noch lange zurück. In Bezug auf
die Sittlichkeit weifs G. die ruffifche Mildthätigkeit zu
rühmen, ohne übrigens auch hier fchönfärben zu wollen.
So ift auch anzuerkennen, dafs G. die Zufchiebung aller !

ungünftigenErfcheinungen im ruffifchen Leben auf Byzanz
und das Mongolenjoch nicht einfach nachahmt und
nicht gefunder Selbftkritik auf diefe Weife die Thür
verfchliefst.

Die Darftellung ift durchweg frifch und lebendig,
mitunter in den Converfationston verfallend. Entfchie-
den zu fordern wäre jedoch eine durchgängige Be-
fchränkung des breiten Sichgehenlaffens und ein Streben
nach prägnanter Kürze.

Dorpat. Bonwetfch.

Dieckhoff, Prof. Dr. Aug. Wilh., Die Menschwerdung des
Sohnes Gottes. Ein Votum über die Theologie Ritfchl's.
Vorgetragen auf der Pfingftconferenz zu Hannover
am 7. Juni 1882. Leipzig 1882, J. Naumann. ^30 S.
gr. 8.) M. —. 50.

Durch diefen Vortrag ift eine Anzahl Paftoren in
ihrem tiefernften, wenn auch fchlecht begründeten Glauben
beftärkt worden, dafs die Theologie Ritfchl's, welche
ihnen unverftändlich ift, auch der lutherifchen Kirche
fremd und fchädlich fei. Zu einer befferen Begründung
werden fie dadurch trotzdem nicht gekommen fein.
Denn es ift ihnen hier für ihren Zweck eine Darftellung
der incriminirten Theologie geboten worden, in welcher
man die letztere nur mit Mühe und den Verf. des Vortrags
als Theologen gar nicht wiedererkennen kann.
Es wäre daher kein Anlafs, den Vortrag hier zu befpre-
chen, wenn derfelbe nicht in feinem weiteren Verlaufe
ein anziehenderes Ausfehen hätte. Auf den letzten Seiten
fpricht der Verf. wirklich theologifche Gedanken aus,
in welchen er fleh über feine damalige Situation erhebt
und in demfelben Mafse Fühlung mit Ritfehl gewinnt.
Er wagt es, feinem Publicum mit der Erklärung zu
nahen, dafs es mit dem einfachen Rückgang auf die
Chriftologie unferer alten Dogmatiker nichts fei. Durch
die Unmöglichkeiten derfelben feien die modernen Verfuche
Dorner's und der Kenotiker veranlafst. Aber auch
diefe feien unbrauchbar. ,Was Ritfehl gegen die Schwächen
diefer Verfuche fagt, wird fleh nicht widerlegen
laffen'. Er felbft empfiehlt nun freilich der lutherifchen
Kirche, als ob es derfelben bei diefer Frage auf eine
geiftreiche Unterhaltung ankäme, die Chriftologie von
Martenfen mehr zu berückfichtigen. Aber er fpricht
dann doch eine Reihe von Sätzen aus, welche das ernfte
Intereffe des Glaubens verrathen und zugleich die Ver-
muthung nahe legen, dafs die Leetüre von Ritfchl's
Schriften nicht ohne Segen für ihn abgelaufen ift. Die
Fehler der Theologen, welche er der Kritik Ritfchl's
preisgiebt, fieht er nicht fowohl in den einzelnen Reful-
fultaten, fondern darin, dafs man begreifend der Menfch-
werdung Gottes näher zu treten unternimmt, als recht
ift. Man folle in der Dogmatik nicht über das hinausgreifen
, was für den Glauben durch die Offenbarung
gegeben ift. In der Chriftologie folle nur die Thatfache
der Gottmenfchheit felbft beftimmter vorgeftellt werden.
Dagegen fei dem Glauben die Frage, wie man Gottheit
und Menfchheit in der Einheit der Perfon des Gottmen-
fchen zufammendenken könne, eine fremde Frage. Ferner
verwirft der Verf. die Methode, ,welche durch Rück-
fchlufs aus der religiöfen Thatfache auf Chriftus als auf
die Urfache feftftellen will, wer und was er ift, und
welche Bedeutung ihm als Stifter der chriftlichen Religion
zukommt'. Dafs der Verf. feinem Publicum fagen
darf, auch Ritfehl befolge diefe Methode, ift ja gleichgültig
. Vielleicht kommt er einmal durch Ritfehl zum
Verftändnifs des richtigen Grundes, weshalb fie abzulehnen
ift, weil fie nämlich im bellen Falle nur zu einer
hiftorifchen Hypothefe, aber nicht zu einer dogmatifchen
Erkenntnifs führen kann. Ich will nun zu zeigen verflachen
,^ wie der Verf. von den Einfichten aus, die er in
jenen Sätzen kundgiebt, auch zu der Einficht kommen