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Ausgabe:

1882 Nr. 15

Spalte:

350-352

Autor/Hrsg.:

Lehner, F. A. v.

Titel/Untertitel:

Die Marienverehrung in den ersten Jahrhunderten 1882

Rezensent:

Schultze, Victor

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Theologifche Literaturzeitung. 1882. Nr. 15.

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dann nicht jener Mann der ftarren Confequenz, als welchen
man ihn fich gewöhnlich vorftcllt. Aber diefes
Bild widerfpricht eben auch der eigenen Selbftdarftellung
des Apoftels in feinen Briefen. Er war im Gegentheil
eine cholerifche Natur, die unter verfchiedenen Situationen
fehr verfchieden handeln konnte, wenn damit nur
dem höchften Ziele, das ihm feft vor Augen ftand, gedient
wurde.

Wie in diefem Hauptpunkte, fo kann ich auch fonft
noch den apologetifchen Ausführungen Schmidt's mehrfach
beiftimmen. So glaube ich auch, dafs in den Verteidigungsreden
Pauli in Cap. 22—26 wenigftens der
in Cap. 24, 14 ausgefprochene Grundgedanke hiftorifch
ift. Paulus will auch als Chrift dem Gotte feiner Väter
fo dienen, dafs er glaubt allem, was gefchrieben flehet
im Gefetz und in den Propheten, d. h. er erkennt die
im A. T. gegebene Offenbarung Gottes als ewig gültig
an und verwahrt fich gegen den Vorwurf, dafs er fich
gegen diefe auflehne (vgl. Rom. 3, 31: vöitov ovv Y.ataq-
yovuev dia ti;c nUltttacf] tri] yevoiro, aXXa vniiov iaxavo-
Ltev). Sein Widerfpruch gegen das gefetzliche Judenthum
und Judenchriftenthum betrifft nicht die Autorität
des A. T.'s, fondern nur das Verftändnifs des
A. T.'s. Auch die von der Apoftelgefchichte mehrfach
hervorgehobene Thatfache, dafs Paulus fich mit feiner
Predigt zunächft an die Juden, und dann an die Heiden
wandte, fcheint mir, fofern es fich nur um die
Thatfache als folche handelt, mit den Grundfätzen des
Apoftels nicht im Widerfpruch zu flehen. Auch hier
kann ich alfo, wenigftens im Wefentlichen, den Ausführungen
Schmidt's beiftimmen. Im Detail wäre freilich
Vieles zu beanftanden. Ueberhaupt aber verfehlt die
Apologetik des Verf.'s in der Hauptfache eben doch
ihr Ziel, weil fie zu viel beweifen will: nicht die wefent-
liche, fondern die abfolute Gefchichtlichkeit aller Berichte
auch im Detail. Als zu beanltandende Punkte
hebe ich beifpielsweife nur hervor: die Vertheidigung der
angeblich allgemeinen Hungersnoth zur Zeit des Claudius
Cap. 11, 28 (S. 157—164), die Harmonifirung der
drei Berichte über die Bekehrung Pauli (S. 350—354),
die Vertheidigung der Schlufserzählung über die Be-
cegnung Pauli mit der römifchen Judenfchaft, nach welcher
die römifchen Juden, wie auch Schmidt (S. 232) anerkennen
mufs, noch gar keine beftimmtere Stellung
zum Chriftenthum bis dahin genommen hätten, während
es doch fchon zu einer Trennung der chriftlichen Gemeinde
von der jüdifchen gekommen war (S. 205—239).
Wie in diefen Punkten die Gefchichtlichkeit der Erzählung
fich nicht halten läfst, fo wird eine befonnene Kritik
überhaupt anzuerkennen haben, dafs fchon die Wirquelle
keine abfolute Garantie der Gefchichtlichkeit bietet,
und dafs vor allem durch die Ueberarbeitung derfelben
von Seite des Verf.'s der AG. ungefchichtliche Züge in
die Erzählung hereingekommen find.

Zu den am wenigften befriedigenden Abfchnitten
gehört fpeciell auch noch das Capitel über den Standpunkt
und Zweck des Verfaffers (S. 180—205). Die
Aufgabe nämlich, die hier hauptfächlich zu löfen wäre,
wird gar nicht in Angriff genommen. Es wird nicht
etwa der Verfuch gemacht, den theologifchen Standpunkt
des Verfaffers der AG., alfo die ihm eigenthüm-
liche Auffaffung des Chriftenthums, feinen chriftlichen
Ideenkreis im Verhältnifs zum judenchriftlichen und pau-
linifchen zu charakterifiren. Sondern es wird faft nur
eine Analyfe von Rom. 9— II gegeben, um zunächft feft-
zuftellen, unter welchem Gefichtspunkte Paulus die Thatfache
der Ausfchliefsung Ifraels vom Heile betrachtet
hat. Hieraus ergiebt fich zunächft die Vermuthung, dafs
der Verf. der AG. fie unter demfelben Gefichtspunkte
betrachtet haben werde. Und diefe Vermuthung findet
Schmidt nun durchgängig beftätigt. Ja die ganze AG.
ift ihm im Grunde nichts Anderes, als eine hiftorifche
Ausführung desfelben Thema's, welches von Paulus Rom.

: 9—-11 dogmatifch behandelt wird. Wie Paulus im Römerbriefe
, fo will nämlich auch der Verf. der AG. zeigen,
dafs ,die Thatfache der Ausgefchloffenheit Israels von
dem Heil in Chrifto ein dem göttlichen Heilsrathfchlufs
nicht widerfprechendes, fondern integrirendes Moment'
ift (S. 203). Das Thema der Apoftelgefchichte ift daher
,die Gefchichte der apoftolifchen Verkündigung
in dem Procefs ihrer Loslöfung vom jüdi-
difchen Volke' (S. 238), oder, wie es ein andermal
formulirt wird, der Bruch der neuteftamentlichen Heilsverkündigung
mit dem Volke Ifrael in feinem Verlaufe
bis zu feinem Abfchlufs in Rom (S. 209). Die AG.
fchliefst deshalb auch gerade mit Pauli Ankunft
in Rom, weil jener Procefs mit der Auseinan-
derfetzung zwifchen Paulus und der römifchen
Judenfchaft zu feinem Abfchlufs gelangt ift (S.
238). Ich fürchte, dafs hier, wie überhaupt in dem ganzen
Buche von Schmidt, noch viel zu viel ,Tendenzkritik
' geübt wird. Sehr Vieles in Betreff der Auswahl
des Stoffes, was Schmidt aus der Abficht und dem
Zweck des Verf.'s zu erklären fucht, ift einfach daraus
zu erklären, dafs der Verf. nicht mehr und nicht weniger
in feinen Quellen vorgefunden hat. Aber man ift
zu diefer Art von Tendenzkritik genöthigt, wenn man
die Thatfache nicht zugiebt, dafs der Verf. der AG. von
der apoftolifchen Zeit keine eigene Kenntnifs mehr be-
fafs, daher ganz auf feine Quellen angewiefen war.

In Bezug auf Quellenfcheidu ng wird übrigens
von Schmidt doch eine Conceffion gemacht. Er nimmt
nämlich an, dafs der zweite Theil der AG., Cap.
13—28, früher gefchrieben ift als der erfte (S.85—
86, 132—135), hauptfächlich wegen der Art, wie der
Prophet Agabus C. 21, 10 als ein den Lefern noch unbekannter
vorgeftellt wird, während man ihn nach C.II, 28
doch als bekannt vorausfetzen müfste; aufserdem auch
wegen gewiffer Erfcheinungen in C. 13—14. Ja Schmidt
geht noch weiter und nimmt an, dafs die beiden letzten
Capitel wieder früher geichrieben find als der übrige zweite
Theil (S. 86 ff.), namentlich wegen C. 27, 2, wo Vaterland
und Vaterftadt des Ariftarchus angegeben werden,
was doch fchon C. 19, 29. 20, 4 gefchehen war. Die
letztere Scheidung fcheint mir nicht einmal nothwendig.
Die erftere aber ift, freilich auch aus anderen Gründen
als den von Schmidt anerkannten, zweifellos richtig.

Giefsen. E. Schür er.

Lehner, Hofr. Dir. Dr. F. A. v., Die Marienverehrung in
den ersten Jahrhunderten. Mit 8 Doppeltaf. in Steindr.
Stuttgart 1881, Cotta. (VIII, 343 S. Lex.-8.) M. 6. —
Die bedeutfame Stellung, welche die Mutter des
Herrn nicht nur auf kirchlichem Gebiete innerhalb des
römifchen und griechifchen Katholicismus, fondern auch
in dem weiten Umfange des chriftlichen Volkslebens und
in der Literatur und Kunft in der Vergangenheit eingenommen
hat und in der Gegenwart, wenn auch in geringerem
Mafse, noch einnimmt, läfst von vornherein erwarten
, dafs eine eingehende Darlegung diefer ihrer
Stellung und der derfelben zu Grunde liegenden theologifchen
und religiöfen Gedanken nach mancher Seite hin
Gewinp bringen werde. An Verfuchen, den reichen
Stoff zu bearbeiten, hat es nicht gefehlt. Die Procla-
; mirung des Dogma's von der unbefleckten Empfängnifs
J hat mehrfach dazu angeregt; indefs find die Leiftungen
weit hinter dem Ziele zurückgeblieben: die apologetifche
Tendenz verfchlang jedesmal die wiffenfehaftliche Unbefangenheit
und Akribie. Ganz anders ftellt fich die
obige Schrift dar. Mit genauer Kenntnifs der literari-
fchen wie der monumentalen Quellen ausgerüftet und in
anerkennenswerther Objectivität hat der der römifchen
Kirche angehörende Verfaffer die Vorftellungen aufgezeigt
, welche in den erften fünf Jahrhunderten in der
Theologie und in der Kirche um die Geftalt der Jung-