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Ausgabe:

1881

Spalte:

190-192

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Ed. v.

Titel/Untertitel:

Die Kiis des Christenthums in der modernen Theologie 1881

Rezensent:

Hartung, Bruno

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feiner Angabe nach damals ein quite commonplace indi-
vidual. Eines Tages aber bekam er mit einem Male
transfccndentale Vifionen oder Infpirationen, die fich auf
moralifche und metaphyfifche Gegenftände bezogen.
Glücklicherweife hielt er fie nicht für göttliche Offenbarungen
; aber er gab fich feinem Erkenntnifstriebe weiter
hin, indem er fich feinen Infpirationen überliefs, fich ein
Syhem auszubauen verfuchte, aber doch auch die phi-
lofophifche Literatur Englands ftudirte. Das Refultat
feines Denkens nebft der Zeichnung des eingefchlagenen
Weges liegt in diefem Bändchen vor. Was der Verf.
fucht, ift eine Verformung des Empirismus oder, wie er
fagt, Materialismus mit dem Transfcendentalismus. Die Ver-

von Analogien her, fchafft aber eineReihe von Räthfeln,
indem fie den Zufammenhang von Leib und Seele zerreifst
und unerklärlich macht. Es ift immerhin anzuerkennen
, dafs der Verfaffer mit den Mitteln der empi-
riftifchen Erkenntnifslehre über den Empirismus hinaus-
zuftreben verfucht, aber diefer Verfuch mufste mifs-
lingen ; denn der Empirismus, wie er den Thatfachen des
Geisteslebens niemals gerecht werden kann, mufs nothwen-
dig entweder inSkepfisausfchlagen oder in einen zuchtlofen
Transfcendentalismus umfchlagen, und dafs die letztere
Klippe vermieden, alfo ein wirklich ,wiffenfchaftlicher
Transfcendentalismus' hier gefchaffen fei, dürfte Niemand,
der in der deutfchen Philofophie heimifch ift, einräumen.

föhnung fucht er auf dem Wege einer Synthefc zwifchen j Es ift anzuerkennen, dafs er auch den Thatfachen des
Geift {Mind) und Materie, er meint fie zu finden in der I religiöfen Lebens gerecht zu werden fucht, aber wenn
Aufhellung: Geift ift Materie, Materie ift Geift. Geift ift | es ihm möglich ift, fie mit Seelenerkenntnifs auf eine
nur eine andere Art Materie. Beide, nur Varietäten : Stufe zu hellen, fo zeigt es fich klar, wie weit er davon
derfelben Urfubhanz, find bewufste Subhanzen. Das I entfernt ih, eine religiöfe Weltanfchauung, anderes ihm

Bewufstfein eignet beiden, und Bewufstfein ih nur ein
anderer Name für das Univerfum. Diefe Gedanken find
nicht neu. Der Verfaffer hält fie aber dafür, und das
ih der Grund, weshalb er feine ,Theorie' und ihre Begründung
der Welt nicht vorenthalten will. Die Begründung
ih darum intereffant, weil fie, was man bei einem
Denker aus Infpiration nicht erwarten follte, auf dem

zu liegen fcheint, begründen zu können. Der Verfaffer
ih offenbar noch im Suchen begriffen. Das zeigt fich
nicht nur in der Art, wie fich religiöfe Erinnerungen (Infpirationen
, Vifionen) mit philofophifchen Theoremen
verbinden, fondern auch in den Widerfprüchen, die un-
empfunden neben einander treten. So finden fich neben
der empirifchen Erkenntnifstheorie rein idealihifche Be-

Wege kühler und befonnener Unterfuchung angehrebt j hauptungen (S. m). Und wenn der Materie auch Bewird
mit den Mitteln der empirihifchen Logik und Er- | wufstfein zugefchrieben wird, fo ih doch das weiter nichts

kenntnifstheorie. Alles Erkennen erfolgt durch Percep
tion und Affimilation. Erkenntnifs ih Sinn für Aehn-
lichkeiten. Die Spitze alles Wiffens bildet die Erkenntnifs
der Aehnlichkeiten zwifchen Geih (oder Seee=Mind)
und Materie. Bis zu diefem Punkte ih alles verhändlich;
hier aber fchlägt die erkenntnifstheoretifche Behauptung
in die metaphyfifche um: an die Stelle der erkenntnifs-
theoretifchen Pofition, dafs das Verhältnifs von Geih
und Materie durch PThhellung der zwifchen ihnen vorhandenen
Gleichheiten erkannt werden müffe, tritt ihm
unvermerkt die metaphyfifche, dafs Geih und Materie,
Seele und Leib reale und objective Gleichartigkeit verbinde
. Auf diefem verhängnifsvollen Denkfehler ruht
diefes Syhem. Und das ganze Beweisverfahren, durch
welches es zur Evidenz gebracht werden foll, bewegt
fich doch nur im Kreife, weil durch die Form desfelben
das Endrefultat fchon im Anfang anteeipirt ih. Wenn
von vornherein, indem das Verhältnifs von Geih und
Materie als das einer äufseren Analogie angefehen wird,
Seele und Leib in eine äufserliche Parallele treten, vermöge
deren die Aehnlichkeiten und Gleichartigkeiten
erkannt werden follen, kann es für Niemanden etwas
Uebcrrafchendes haben, wenn fchliefslich die leiblichen
Vorgänge als Schlüffel für das Verhändnifs feelifcher
Vorgänge ausgegeben werden. Das Syhem, welches dabei
herauskommt, ih ein pedantifcher Schematismus.
Die Seele ih eine höhere Art Leib und heckt in dem
materiellen Leibe. In der Seele heckt wieder bei gut
entwickelten Menfchen der Geih {Spirit), der fich zur
Seele verhält wie diefe zum Leibe etc. Die Seele hat
die Erkenntnifs des Leibes und damit der Materie überhaupt
. Der Geih hat die Erkenntnifs der Seele, wäre
aber felbft nur erkennbar, wenn ihm noch wieder ein
viertes Wefcn höherer Art eingefchachtelt wäre. Wie
die Erkenntnifs der Materie das Wachsthum der Seele
ih, fo die Erkenntnifs der Seele das Wachsthum des
Geihes. Wie der Leib wächh durch Ernährung, lo ih
auch das Wachsthum der Seele Ernährung im eigentlichen
Sinne. Der Urfprung des Geiheslebens liegt in
Infpiration, und den PIrfcheinungen desfelben entfprechen
die religiöfen Empfindungen. Der Verfaffer denkt
nicht gering von diefer Theorie. Er ih geneigt, ihr
eine Bedeutung für die Erklärung feelifcher Vorgänge
beizumeffen, wie der Theorie Newton's für die Erklärung
der Bewegungen der Sterne. Und thatfächlich erklärt
doch diefe Theorie nichts, fondern hellt nur eine Reihe

als Theorie; der Verf. hat viel zu viel gefunden Sinn
für die Wirklichkeit, um von derfelben einen praktifchen
Gebrauch machen zu wollen. Er zeigt in einzelnen
Partien feines Buches echten Forfcherfinn und Begabung
zu philofophifchen Unterfuchungen (fo Cap. I—IV The
Fallacy of Language. Cap. IX The Symbolism), fo dafs
wir für die Zukunft vielleicht noch tüchtige Leihungen
von ihm erwarten können. Aber zu einer zufammen-
hängenden Weltanfchauung könnte er doch nur gelangen
, wenn er fich durch Kant's Kritik der reinen Vernunft
vom Empirismus befreien liefse, zu einem wirklichen
Verhändnifs der Seelenthätigkeiten nur, wenn er feine
Infpirationen, die er ohne Unterfuchungen ihres Werthes
für Erkenntnifsmittel hält, und die doch kaum etwas Anderes
find als Spiegelungen einer ungezügelten Phan-
tafie, durch ein regelrechtes Studium der Phyfiologie erfetzte
, und zu einer richtigen Würdigung der chrihlichen
Religion, deren .religiöfe Terminologie' er jetzt durch
die feinige erfetzt wiffen möchte, nur dann, wenn es ihm
gelänge, fich durch gründliche Studien über das Wefen
der Religion von der fundamentalen Verfchiedenheit des
religiöfen Lebens und philofophifcher Erkenntnifs zu
überzeugen. Zu wirklichen Leihungen im Bereich des
menfehlichen Wiffens genügt es nicht, die Welt gefehen
zu haben oder fich feinen Meditationen hinzugeben; dazu
gehört auch fyhematifche und methodifche Arbeit.

Breslau. L. Lemme.

Hartmann, Ed. v., Die Krisis des Christenthums in der
modernen Theologie. Berlin 1880, C. Duncker. (XVI,
115 S. gr. 8.) M. 2. 70.

Für eine Hartmann'fche Schrift kommen diefe Zeilen
fchon etwas fpät. Alles, was Hartmann fchreibt, pflegt
einen Strom von Kritiken und Entgegnungen , Repliken
und Beifallsbezeugungen aufzuwirbeln, fo dafs man bald
nichts neues mehr darüber tagen kann. Nicht ganz fo
ih es bei der vorliegenden, welche zudem nur wenige
überrafcht hat, weil fie, zum Theil wenighens, bereits
als Zeitfchriftartikel vorlag. Sie ih nicht fo leicht ge-
fchürzt in die Welt getreten, wie manche andere desfelben
Verfaffers. Seitdem derfelbe vor fechs Jahren
feinen Angriff gegen das Chrihenthum in feiner ,Selbh
zerfetzung des Chrihenthums' zum erhen Mal in abge-
fchloffene Form brachte, hat er fich eingehender mit