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Ausgabe:

1880

Spalte:

452-454

Autor/Hrsg.:

Müller, F. Max

Titel/Untertitel:

Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des alten Indiens 1880

Rezensent:

Baudissin, Wolf Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1880. Nr. 19.

452

Religionslehre nicht zu billigen. Die Eintheilung der po-
fitiven Theologie in Dogmatik, Symbolik (als vergleichender
Dogmatik) und Statiftik fällt mit feiner Auffaf-
fung der Dogmatik. Die praktifche Theologie behandelt
Rothe unter der Theilung in Kirchenregiment und Gemeindeleitung
.

Ruppelius hat fich durch die Herausgabe diefer Ency-
klopädie entfchieden ein Verdienft erworben. Er hat bei
feiner Herausgabe vorzüglich auch das Bedürfnifs der
Theologieftudirenden im Auge gehabt, indem er, ohne
.einer andern theologifchen Encyklopädie auch nur im
Geringften zu nahe treten zu wollen', glaubt, ,dafs —
auch fchon der claffifchen Kürze wegen — keine andere
fo fehr jenes Gepräge an fich trägt, welches einem Buche
den Charakter eines Studentenbuchs giebt, als gerade die
Rothe'fche Encyklopädie'. In der That hätte diefe Vor-
lefung, die aufs Genauefte für die Bedürfnifse der Studenten
berechnet war, diefen Charakter leicht erhalten können
. Denn wenn Schleiermacher's kurze Darfteilung er-
fahrungsmäfsig den Anfängern ohne weitere Anleitung
vielfach faft kaum zu überwindende Schwierigkeiten ent-
gegenftellt, legt diefe Encyklopädie, die fich übrigens
vielfach wörtlich an jene anfchliefst, den Organismus der
theologifchen Disciplinen in feffelndem Zufammenhang
klar in einer fpannenden und anregenden Weife, die fowohl
gründlich in das Lehrgebäude einführt, als auch für den
Gegenftand intereffirt und erwärmt und Luft und Liebe
erweckt zu innerer Betheiligung an der hier vor Augen
geftellten Aufgabe. Nun ift aber das Manufcript, das
der Herausgeber hat abdrucken laffen, wohl in der Mitte
der vierziger Jahre entftanden, wenigftens ift die letzte
Jahreszahl, die ich mich in demfelben gefunden zu haben
entfinne, die des Jahres 1843. Seitdem hat fich denn
doch aber in der Theologie manches verändert! Und fo
hätte fich denn auch der Herausgeber nicht begnügen
dürfen, gelegentlich einzelne Zettel von Rothe's Hand
aus fpäterer Zeit einZufchalten, fondern hätte, wenn das
Buch nicht blofs für die Kenntnifs Rothe's wichtig fein,
fondern auch den Bedürfnifsen der Gegenwart dienen
follte, mehr Selbftthätigkeit bei der Herausgabe mitwirken
laffen müffen, wie er entfchieden beffer gethan hätte,
die im Rothe'fchen Manufcript befindlichen Berufungen
auf andere Autoren durch weitergeführte Parallelen zu
bereichern, ftatt fie fortzulaffen. Die Gefchichte der ver-
fchiedenen Disciplinen mufste entweder ganz wegbleiben
— was immerhin zu bedauern gewefen wäre — oder bis
in die Gegenwart fortgeführt und bei den Disciplinen
zugefügt werden, bei denen fie fich Rothe des drohenden
Semefterendes wegen vertagt hat. Bei der Dogmatik
und Symbolik hat der Herausgeber an die Darflellung
des Manufcripts einfach die Auffaffung, die Rothe in der
Vorlefung des Winterfemefters 185960 gegeben hat, angereiht
, was den Anfänger nothwendig verwirren mufs,
während es fo leicht war, beides in einander zu verarbeiten
. In der praktifchen Theologie wird Rothe eiliger
und flüchtiger, und die Darftellung ermangelt der Ruhe
und Stetigkeit der Gedankenentwickelung; der Herausgeber
aber begleitet die Rothe'fchen Ausführungen mit
kurzen ,Skizzen aus dem Colleg', die faft nur den Werth
von Ueberfchriften haben: hier bedurfte es einer voll-
ftändigen Bearbeitung. Freilich erwecken die wenigen
Zeugnifse der Selbftthätigkeit des Herausgebers kein
günftiges Vorurtheil über die Art, wie diefe ausgefallen
wäre. Denn S. 8, wo Rothe von der formalen
Beftimmung der Aufgabe aus ein fehr abfälliges
Urtheil über die materiale Behandlung der Encyklopädie
fällt, wirft Ruppelius die Frage auf, ob vielleicht Herzog
's Realencyklopädie gemeint fei, während es Rothe
S. 9 mit aller wünfchenswerthen Deutlichkeit fagt, dafs
er Encyklopädien wie die von Rofenkranz im Auge hat.
Und S. 143 verwechfelt er die im Schleiermacher'fchen
Sinne gefafste Polemik, welche die krankhaften Richtungen
der Frömmigkeit, Härefie und Schisma behandeln

foll, (von Rothe zur praktifchen Theologie gezogen),
mit der confeffionellen Polemik, welche die Beftreitung
der Lehrbegriffe anderer Kirchen bezweckt.

Neben einer fehr grofsen Zahl von unbedeutenden
Druckfehlern find zu corrigiren: S. 7 Origines (ftatt Ori-
genes), S. 8 Dictionnaire encyclopedique, S. 34 ftringen-
ten und Theologie (ftatt Theologik), S. 35 Cappellus,
S. 54 10?: (ftatt 1073), S. 68 fehlt in einem Satze .nicht'.
Der Herbärtianer, der eine Ethik gefchrieben, heifst nicht
Strumpall (S. 33), fondern Strümpell.

Breslau. L. Lemme.

Müller, F. Max, Vorlesungen über den Ursprung und die
Entwickelung der Religion mit befonderer Rückficht auf
die Religionen des alten Indiens. Strafsburg 1880,
Trübner. (XVI, 439 S. 8.) M. 7. —

Das Buch bietet eine Ueberfetzung jener auch ins
Franzöfifche übertragenen Vorlefungen, welche M. Müller
im Jahre 1878 in englifcher Sprache im Chapter-Houfe
der Weftminfter-Abbey gehalten hat, einen Curfus ver-
I fchiedener, im Auftrage des Verwaltungsrathes der Hib-
bert'fchen Stiftung zu haltender Vorlefungen eröffnend.

— Die Eigenthümlichkciten der populären Darftcllungen
M. Müller's find zu bekannt, als dafs Ref. mit ihrer Schilderung
fich abzugeben brauchte. Wenn übrigens der Verf.
jene Meifterfchaft niemals wieder erreicht hat, welche
man immer an feinen Effays und feinen Vorlefungen
über die Wiffenfchaft der Sprache bewundern wird, fo
ift, glaube ich, der Grund zumeift zu fuchen in den Gegen-
ftänden, welche er in feinen neueren populären Darftellungen
gewählt hat. Seine fpecielle und einzigartige Begabung
fcheint mir zu liegen in der Schilderung lingui-
ftifcher Entwickelungsproceffe, dann auch einzelner my-
thologifcher, fofern fie mit jenen zufammenhängen. Grofse
religionsgefchichtliche Probleme zu behandeln, ift m.
E. dem Verf. nicht in demfelben Mafse gegeben. Wo
er auf folche in den Effays zu fprechen kommt, wie in
der Abhandlung über den femitifchen Monotheismus,
ift fchon, fo fcheint mir, diefelbe Beobachtung zu machen.
Das Beftreben, fchwierige Fragen dem Laien möglichft
deutlich zu machen, hat in der vorliegenden Schrift vielfach
zur Folge gehabt, dafs die Darfteilung recht breit

I und fchleppend wurde, ohne doch immer ganz durchfichtig
zu fein.

In fieben Vorlefungen ift der Gegenftand befprochen
worden. Die erfte handelt ,über die Wahrnehmung des
Unendlichen' (S. 1—57). Es dient diefer Abfchnitt, in
welchem der Verf. fich mit Straufs, mit Kant und Fichte,
Schleiermacher und Hegel, Comte und Feuerbach auseinanderfetzt
, der Begründung einer früheren Definition
M. Müller's: .Religion ift eine geiftige Anlage, welche
den Menfchen in den Stand fetzt, das Unendliche unter
den verfchiedenften Namen und wechfelnden Formen zu
erfaffen . . .' (S. 25). Darüber kann man, wie dem Autor
nicht entgangen ift, allerdings fehr zweifelhaft fein, ob
,das Unendliche ein guter Ausdruck für alle Gegenftände
des religiöfen Bewufstfeins' ift, und es würde mir richtiger
fcheinen, wenn dem felbftgemachten Einwurfe: ,Ift
der Begriff des Unendlichen anftatt den Grundbegriff für
alle religiöfe Entwickelung zu bieten, nicht vielmehr
einer der fpäteften in der Entwickelung des mcnfchlichen
Bewufstfeins?' (S. 31) — Folge gegeben und eine andere
Definition der Religion zu Grunde gelegt worden wäre.

— Für die gelungenfte diefer Vorlefungen halte ich die
zweite: ,Ift Fetifchismus die Urform aller Religion?'
(S. 58—146). Die Bezeichnung Fetifchismus, mit welcher
die Wenigften einen deutlichen Begriff verbinden, ift eines
derjenigen Modewörter, welche nur zur Verwirrung dienen
, und es ift fehr anerkennenswerth, dafs der Verf.
ausführlich dargeftellt hat, durch welche Quidproquo's
diefe von de Broffes im Jahre 1760 aufgebrachte Benenn-