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Ausgabe:

1879 Nr. 22

Spalte:

530-531

Autor/Hrsg.:

Krause, Albrecht

Titel/Untertitel:

Kant und Helmholtz über den Ursprung und die Bedeutung der Raumanschauung und der geometrischen Axiome 1879

Rezensent:

Pünjer, Bernhard

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 22.

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übcrrafcht, oft mitten in einem felbft werthlofen Räfonne- ; liehen Sinn eine Illufion ift; zweitens aber die Erkenntnifs,
ment. Andcrerfeits dient dies freilich dazu, ein lebhaftes , dafs die wirklich möglichen Unterfuchungen über die
Bedauern im Lefer hervorzurufen, dafs es dem talent- Entftehung unferer ethifchen Ideale, auf der fchmalen
vollen Verf. an der Zucht des Denkens fehlt, welche Bafis des einzelnen Perfonlebens angeftellt, zu keinem
überall die Bedingung wahrhaft bleibender Leiftungen , definitiven Abfchlufs führen und daher auf der breiteren
ift, namentlich aber auf dem Gebiet mehr abftracter Er- ■■ Bafis des gefchichtlichen Lebens fortgefetzt werden
örterungen, wo nicht in äufserlich nöthigenden That- ! müffen. Von diefen Fortfehritten allein feien, meine ich,
fachen eine beftändige Controle gegeben ift. wohlthätige Folgen zu erwarten. Zu denen rechne ich

Die ethifche Beurtheilung ferner, welche der Verf. ! aber, dafs es bei einer folchen richtigeren Einrichtung
durchgehends übt, leidet darunter, dafs fie vielfach von. j der ethifchen Arbeit und ihrer Zwecke unmöglich werden
unbeftimmten Begriffen abhängig ift. Die Autonomie wird, eine gefchichtliche Erfcheinung wie die chriftliche
des fittlichen Bewufstfeins und die Bildung find vorzüg- [ Religion als eine Summe ethifcher Lehrmeinungen wie
lieh oberfte Inftanzen feines Urtheils. Dabei hebt er andere auch zu werthen, während fie der Mutterfchofs
felbcr gelegentlich hervor, dafs der nackteftc Egoismus der unter uns gültigen und wirkfamen ethifchen Ideale
auch autonom handelt, und dafs die Hingabe an objec- 1 ift. Auf jene andere Auffaffung kann nur ein fcholaftifcher
tive Moralprincipien rein formal der Heteronomie fehr j Verftand gerathen, dem fich die gefchichtliche Verähnlich
fieht. Er weifs alfo, dafs die Autonomie des 1 gangenheit in Syfteme und Frincipien als Stoff für das
fittlichen Handelns nachgerade zu einem dummen Schlag- ' endlich gefundene wahre Syftem auflöft, ein Irrthum,
wort geworden ift und keinesfalls für fich eine oberfte j der noch zu fehr beides, die philofophifche und theolo-
Inftanz des Urtheils bilden kann; dennoch benutzt er | gifche Arbeit an der Ethik hemmt. Umgekehrt find
es, als wenn damit jede weitere Appellation ein Ende 1 die Syfteme der Ethiker von Fach vor allem auch als
hätte. Ebenfo fpottet er über den Bildungsphilifter und j Ausdruck der jeweiligen gefchichtlichen Entwicklung zu

werthen. Und unter diefem Gefichtspunkt angefehen
können die vorliegenden ,Prolegomena jeder künftigen
Ethik' nicht zu den erfreulichen Zeichen unferer Zeit gerechnet
werden.

redet doch von der Bildung und von den ,Gebildeten
in einer Weife, wie es nur der eingefleifchteftc Bildungsphilifter
kann. Auch im einzelnen fehlen die Urtheile
nicht, bei denen es fchwer wird, an eine befonnene
Ueberlegung als ihre Quelle zu glauben. So heifst es
von der Mutterliebe, dafs fie, felbft bis zur fchamlofen
Selbftfucht gegen alle anderen gefteigert, doch werthvoller
fei als alle Gefchmacksmoral (unter deren Repräfentanten
Herbart und Ariftoteles figuriren!). Abgefehen davon,
dafs hier Gröfsen mit einander verglichen find, die gar
nicht ohne weiteres verglichen werden können, ift der
Leichtfinn diefes auf das blofse Wort ,Liebe' gegründeten
Urtheils handgreiflich. Andere Urtheile des Verf.
find geradezu eine fittliche Verirrung, wie z. B. die Behauptung
, dafs ein Officier zum bellen feines Vaterlandes
das gegebene Wort brechen darf, ja in diefer Weife
feine moralifche Exiftenz im Intcrefle des ganzen opfern
(oll. Gern würde ich fchlicfslich auch hier die Unter-
fcheidung zwifchen lobcnswcrthem und tadelnswerthem
«reiten laffen und es als erfreulich bezeichnen, dafs wir
bei aller Divergenz der Anfchauungen doch alle einen
unveräufscrlichcn Befitz ethifcher Ideale gemeinfam haben
. Aber wenn auch der Verf. viele Urtheile fällt,
denen man von Herzen zuftimmen kann, fo wird es doch
fchwer, an einen durchgreifenden fittlichen Ernft bei ihm
zu glauben. Denn felbft wo er mit ethifchem Pathos
redet, wirft er mit banalen Phrafen und platten Vergleichen
um fich. Namentlich macht aber ein doppeltes
die Lectürc des Buches häufig geradezu widerwärtig.
Und das ift das Behagen, mit welchem fich der Verf.
in unnöthiger Breite über gefchlcchtliche Verhältnifse
ergeht und grobe Verirrungen wie felbftverftändliche
NaturereignifK behandelt; in Contraft mit diefer erhabenen
wiffenfehaftlichen Objectivität aber der Umftand,
dafs er grofse Erfcheinungen der Gefchichte, fobald fie
mit der chriftlichen Religion zufammenhängen, faft immer
in einem Ton befpricht, in welchem cynifche Freude an
Bemängelung deffen, was uns Chriften heilig ift, und Un-
kehntnifs deffen, wovon er redet, fich die Wage halten.
Geradezu erftaunlich ift in diefen Fällen auch die ge-
fchichtslofe Art feines Urtheils, welche an das Räfonne-
ment der feichteften Aufklärer erinnert.

Zum Schlufs noch ein Wort über den zweiten Titel
des Buchs. Der Verf. will uns durch dasfelbe zu einer
wiffenfehaftlichen Ethik verhelfen, die wir noch nicht
befitzen. Befitzen wir fie nicht, fo werden wir auf diefem
Weg fchwerlich dazu gelangen. Die Fortfehritte, die
es hier zu machen gilt, find meines Erachtens erftens
die Verbreitung der Einficht, dafs fich auf wiffenfehaft-
lichem Weg über Werthe nichts ausmachen läfst, daher
die fo vielfach erftrebte wiffenfehaftliche Ethik im gewöhn-

Bafel. J. Kaftan.

Krause, Albrecht, Kant und Helmholtz über den Ursprung
und die Bedeutung der Raumanschauung und der geometrischen
Axiome. Lahr 1878, Schauenburg. (VIII,
94 S. gr. 8.) M. 3. -

Die grofse Bedeutung, welche die Fragen der Er-
kenntnifstheorie für die Religionsphilofophie haben, mag
es rechtfertigen, dafs hier auch die vorliegende Schrift
Erwähnung findet. Ueberdies ift diefelbe bereits von
einem Artikel der ,ProteftantifchenKirchenzeitung' (Jahrg
1878 Nr. 45) als unwiderftehliche Widerlegung des Spiritismus
begrüfst worden. Je mehr nun diefer um fich
greift und unferem aufgeklärten Jahrhundert den craffeften
Aberglauben wiederzubringen droht, defto mehr verdient
ein gegen diefe Krankheit angepriefenes Heilmittel
unfere Beachtung. Ref. freilich mufs geliehen, dafs er
in diefes Heilmittel fich ebenfowenig finden wie begreifen
kann, dafs die fog. metamathematifchen Speculatio-
nen dem Spiritismus Vorfchub leiften follen.

Kant bemüht fich bekanntlich in feiner ,transfcen--
dentalen Aefthetik' den Nachweis zu führen, dafs der
Raum eine reine Form finnlicher Anfchauung, alfo a
priori fei. Damit wird entfehieden in Abrede geftellt,
dafs der Raum ein empirifcher Begriff fei, abgezogen
von äufseren Erfahrungen. Ebenfo entfehieden lehnt
Kant die Meinung ab, als fei die Raumanfchauung
uns gegeben, ehe wir Empfindungen haben. Aber dafs
wir alle äufseren Gegenftände uns im Räume vorftel-
len, gehört zur Form und nicht zur Materie der Erfcheinung
, d. h. ift in unferer Sinnlichkeit begründet.
Die Sinnlichkeit wird einfach definirt als die Fähigkeit,
Vorftellungen zu bekommen. Die modernen phyfiolo-
gifchen Unterfuchungen liegen Kant fo fern, dafs er
über die Beziehungen unferer Sinnlichkeit zu Sinneswerkzeugen
und Gehirn eben fo wenig reflectirt, wie über
die Frage, wie es zugeht, dafs wir im Räume die Dinge
an verfchiedenen Orten fehen. Darüber fagt Kant nur:
,Darin (d. h. im Räume) ift ihre (d. h. der Dinge) Ge-
ftalt, Grofse und Verhältnis gegen einander beftimmt
oder beftimmbar'. Damit ift, nach des Ref. Meinung,
mit Kant's Apriorismus die moderne Theorie der Em-
piriften und der Nativiften in gleicher Weife vereinbar.
Ebenfo fern liegen Kant die von Riemann und