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Ausgabe:

1879 Nr. 9

Spalte:

212

Autor/Hrsg.:

Gunning, J. H.

Titel/Untertitel:

Das Leben der Menschheit und des Menschen eine göttliche Komödie 1879

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Theologifche Literaturzeitung. 1879. Nr. 9.

212

keit Gottes Ritfehl fogar in der Frageftellung an
Klarheit und Schärfe fehlen laffe.

Im 7. Hauptft. endlich hält L. gegenüber der R.'fchen
Schule trotz der gemeinfamen Anerkennung, dafs das
Lebenswerk Chrifti in erfter Linie auf die Gemeinde und
erft abgeleiteter Weife auf die einzelnen Gläubigen ,zu
beziehen fei, feine Unterfcheidung des chriftlichen Prin-
eipes der Gotteskindfchaft und der Perfon Chrifti aufrecht
. Die Verföhnung und Erlöfung fei ihm nicht ein
äufseres Ereignifs, welches innerhalb der Gefchichte
durch eine befondere Handlung zu Stande gebracht
wäre, fondern ein inneres geiftiges Gefchehen, welches
freilich allerdings erft infolge des gefchichtlichen Lebenswerkes
Chrifti innerhalb der chriftlichen Gemeinde
mit Bewufstfein durchlebt werde.

Aus vorftehendem Referat über die Stellung, welche
L. der (zwar keineswegs in erkenntnifs - theoretifcher j
Hinficht, wohl aber vermöge ihres Moralismus im Religionsbegriff
kantifirenden) R.'fchen Theologie gegenüber i
einnimmt, ergiebt fich nun im Wefentlichen auch fchon j
fein Verhältnifs zu Biedermann. In ihm erfcheint der
,alte Gegenfatz von Hegel und Schleiermacher, wenn
auch erheblich gemildert durch die dazwifchenliegende
Entwickelung, wieder aufgelebt'. Behufs der Hervorhebung
der negativen Seite diefes Verhältnifses wird es [
genügen, eine charakteriftifche Stelle hier zu reproduciren,
in der L. gegen B. bemerkt (S. 195): ,Reicht das exaete
Wiffen nie und nirgends über das Gebiet der äufseren
und inneren Erfahrung hinaus, ift insbefondere der von
dem Einheitstriebe unferes Geiftes geforderte höchfte
F-inheitsgrund von Natur und Geift für die Wiffenfchaft
unerkennbar, fo bleibt alle Mühe vergebens, aus den
religiöfen Erfahrungsthatfachen metaphyfifche Erkennt-
nifse herausdeduciren zu wollen. Verfucht man's doch,
fo verflüchtigt man unvermeidlich den objectiven Gehalt
der Religion zur logifchen Gefetzmäfsigkeit der fub-
jectiv-pfychologifchen Proceffe'.

Dergegebene Bericht dientzugleichzurKennzeichnung j
des zweitgenannten Werkes, deffen hauptfächlichfte
Eigenthümlichkeiten er in allem Wefentlichen fo weit erkennen
läfst, dafs Ref. fleh damit begnügen kann, im
Uebrigen auf feine Bemerkungen über die erfte Auflage
No. 10 d. Jahrg. 1877 diefer Zeitfchr.) zurückzuweifen,
welche zugleich des Ref. Stellung zu den Controverspunk-
ten verrathen. Es wird nur noch darauf ankommen, die
nicht eben erheblichen Veränderungen zu notiren, zu
denen fleh Lipf. bei diefer zweiten Auflage veranlafst
gefehen hat. Die Ziffern der Paragraphen find die-
felben geblieben, auch ift der Text derfelben (das Grofs-
gedruckte) nur einige Male verändert. In dem gröfsten
Theile des Buches find auch die erläuternden Noten
feiten umgeftaltet oder erweitert, öfter diefe in der Prin-
cipienlehre. Befondere Sorgfalt ift auf die Revifion der
Citate verwendet. In der Anordnung der einzelnen
Unterabtheilungen ift Einiges geändert, insbefondere
erfcheint die Eschatologie jetzt nicht mehr als Anhang.
Der viel mifsdeutete jj 965 ift in Text und Erläuterungen
anders gefafst. Während es nämlich in der 1. Ausgabe
hiefs, die Hoffnung auf eine individuelle Fortdauer nach
dem Tode fei nicht unmittelbar auf relig. Boden er-
wachfen, heifst es in der 2., diefelbe fei mit der Religion
aus der gleichen pfychologifchen Wurzel entfprungen,
und während ihr dort ein engfter Zufammenhang mit
dem gefchichtlich-religiöfen Bewufstfein des Chriften
beigelegt war, wird hier fchlechthin gefagt, dafs fie mit
dem eigenthümlichen religiöfen Bewufstfein des Chriften
im engften Zufammenhang flehe.

Kiel. F. Nitzfeh.

Anm. Zu dem obigen Referate erlauben wir uns nur hinzuzufügen,
dafs die verhandelten Streitfragen inzwifchen in ein neues Stadium getreten
lind, indem Lic. Herrmann in einem kürzlich erfchienenen grö-
fseren Werke: ,Die Religion im Verhältnifs zum Welterkennen und zur

Sittlichkeit' (Halle 1879) feinen Standpunkt theils vorfichtiger formulirt,
theils ausführlicher entwickelt und eingehender begründet hat. Wir hoffen,
auf diefes Werk bald zurückkommen zu können

Die Redaction.

Gunning, J. H., Das Leben der Menschheit und des Menschen
eine göttliche Komödie. Aus dem Holländifchen
durch L. v. H. Mit einer neuen Vorrede von J. H.
Gunning. Gotha 1878, F. A. Perthes. (XXIII, 138 S.
8.) M. 2. 60.

Schon wiederholt ifl der Verfaffer durch Ueberfetz-
ungen in Deutfchland eingeführt. Seine Kraft befteht
in einer grofsartigen Auffaffung und Darflellung der
chriftlichen Weltanfchauung. Ueberall fleht er die Gedanken
derfelben abgebildet und fich hindurchringend.
Er ift Meiner einer tiefen , finnigen Allegorie , der ein
reiches Material in Leben und Wiffenfchaft zu Gebote
fleht. Begreiflicher Weife mufs er fich zu Dante befon-
ders hingezogen fühlen. Seine Aufgabe in vorliegendem
Schriftchen befteht nun nicht fowohl in Deutung der
einzelnen Bilder und Geftalten der divina commedia,
deren Reichthum und Beziehungen er vielfach geiftvoll
und überrafchend ans Licht ftellt, als in einer höheren
Auffaffung des ganzen Planes. Er behandelt im erften
Theil das Gedicht als eine Darfteilung ,des Lebens der
Mcnfchheit und des Menfchen im hiftorifchen Fortgang'.
War die alte Welt ein iuferuo, in dem es ohne Hoffnung
und ohne Gott immer weiter in die Tiefe geht, fo ift in
Chrifto die Wende gegeben, von der aus es wieder aufwärts
geht. Aber die chriftliche Ae'ra ift ebenfalls eine
Zeit des Leidens und des Kampfes, nur keines hoffnungs-
lofen mehr, fondern ein FTrtfchritt durch die Kreife des
,Läuterungsberges' empor, ein purgatorio. Am Ende
fleht die Vollendung, die Verföhnung der Gegenfätze,
das Paradies. Wie die Menfchheit, fo mufs auch der
einzelne Menfch in die Tiefe der Hölle und der vollen
Sündenerkenntnifs niederfteigen, um die Kraft zur
Umkehr zu gewinnen, a riveder le stelle. Aber das
ganze Chriftenleben, deffen innerer Hebel das Kreuz ift,
kommt nicht über den Läuterungsberg hinaus, wird jedoch
in hoffnungsfreudigem P'ortfchritt auch durch Kampf
und Leid dem Paradies zugeführt. — Wie in horizontaler,
fo finden wir das Menfchenleben auch in fenkrechter
Linie durch die drei Theile des Gedichts repräfentirt,
nämlich ,das Leben der Menfchheit und des Menfchen
in feiner beftändigen und fich immer gleichbleibenden
Bedeutung'. Seine Wirklichkeit hat einen doppelten
Hintergrund, Hölle und Himmel, von beiden beeinflufst,
infpirirt, ein Leben des Kampfes, in welchem der Menfch
fich zu* Gott emporfliegt, eine Läuterung, zu der Beatrice,
die Seligmachcnde, das Ideal der höchften Liebe ihn
aufhebt Die Gegenwart ift alfo auch hier das purgatorio
. Schon diefe flüchtige Skizze zeigt, wie Verf. die
vielfach gebräuchliche, von Schopenhauer befonders
einfeitig betonte Unterfchätzung der beiden letzten Theile
vermieden hat, die vielleicht an Plaftik der Darfteilung,
aber gewifs nicht an innerem Reichthum hinter dem
erften zurückftehen. Ueber Einzelheiten zu rechten dürfte
fehwer fallen. Das Schriftchen ift kein Commentar.
Der Zweck desfelben ift nicht Dante, fondern der
Lefer. Man weifs nicht, wo nach des Verf.'s Anficht die
Gedanken des Dichters und die eigenen, von jenen angeregten
fich fcheiden. Zu letzteren dürfte es gehören,
wenn die drei Theile des Gedichts den drei Pcrfonen
der Gottheit zugewiefen werden. Aber wie dem auch
fei, als eigeneArbeit des Verf.'s wird man diefe geiftvolle,
an neuen Gedanken reiche und tief anregende Darfteilung
der fchon vor Jahrhunderten bezeugten Wahrheit mit
Spannung und Intereffe lefen, als Beitrag zur Danteliteratur
ift fie wohl im Stande, dem Dichter folche zuzuführen
, die ihn ,nicht gelefen haben, fondern lefen'.

Leipzig. Härtung.