Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1878

Spalte:

560-564

Autor/Hrsg.:

Woker, Philipp

Titel/Untertitel:

Das kirchliche Finanzwesen der Päpste. Ein Beitrag zur Geschichte des Papstthums 1878

Rezensent:

Müller, Carl

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

559

ein befonderes patriotifches Intereffe abgewonnen hat, ein
biograpifches Denkmal gefetzt und infonderheit feiner Va-
terftadt fein Andenken in Erinnerung gebracht werden, und
es foll zugleich ein Bild gegeben werden von dem geiftigen
Leben jenes Klofters überhaupt, für welches ja eben der
genannte Zeitraum den Beginn feiner höchften Blüthe und
feiner wichtigften gefchichtlichen Einwirkung bezeichnet
und an deffen Hebung Ratpert allen Spuren zufolge
einen bedeutenden Antheil gehabt haben mufs. Das
Letztere, die Darfteilung des wiffenfehaftlichen und reli-
giöfen Lebens in St. Gallen darf als gelungen bezeichnet
werden; nach einem kurzen Ueberblick über
die Entwicklung des Klofters während des 9. Jahrhunderts,
für welchen er meift durch Ratpert's eigene Chronik fich
konnte leiten laffen, fchildert er der Reihe nach die ver-
fchiedenen Kreife, denen deffen Leben und Thätigkeit angehörte
, die Schule vor Allem, der er nach Ekkehard's
Bericht fich mit folchem Eifer hingegeben hat, dafs er
um ihretwillen felbft bei der Meffe und im Capitel fehlen
konnte und das Spazierengehen wie den Tod hafste,
dann die Wiffenfchaft, deren fonderliche Pflege durch
Ratpert übrigens lediglich Vermuthung ift, das gottes-
dienftliche und das klöfterliche Leben und endlich die
Gefchichtfchreibung und die Dichtkunft, für welche nun
wieder Ratpert felbft mit den von ihm in beiden Gebieten
hinterlaffenen Werken in den Vordergrund geftellt
werden konnte; der Verf. zeigt fleh dabei überall in der
einfehlägigen Literatur wohl bewandert und weifs die- !
Elbe, wenn er auch die bisherigen Eorfchungen mehr
reproducirt als bereichert, doch zu einem anfprechenden
und lebensvollen Gefammtbild der geiftigen und reli- j
giöfen Cultur des damaligen St. Gallens und der damaligen
Zeit überhaupt zu verwenden. Namentlich die j
Briefe Alcuin's und das fog. Wörterbuch des Bifchofs j
Salomon find in diefer Weife gut benützt. Weniger
gunftig dagegen vermag Ref. über die biographifche
beite der Schrift zu urtheilen, die doch nach dem Titel
gerade ihren Hauptinhalt ausmachen foll. Auch hier 1
(landen dem Verf. treffliche Vorarbeiten zu Gebot, neben
den Eorfchungen Dümmler's, Schubiger's u. A. namentlich
die Ausgaben der Chronik Ratpert's und Ekkehard's
durch G. Meyer von Knonau in den St. Galler Mittheilungen
zur vaterländifchen Gefchichtc (Bd. XIII 1872,
XV und XVI 1877); aber man kann nicht fagen, dafs
durch die neue Zeichnung die dort gegebenen Umriffe
an Inhalt oder an Deutlichkeit gewonnen hätten; vielmehr
wer nicht fchon im Voraus aus den erwähnten
Arbeiten die gefchichtlichen Data über Ratpert's Leben
kennen gelernt und über die Glaubwürdigkeit derfelben fleh
orientirt hat, weifs nirgends, wo in diefem .Lebensbilde'
die Dichtung des Verfaffers von der gefchichtlichen
Ueberlieferung und in diefer wieder das Zuverläffige und
Beglaubigte von dem Problematifchen und entfehieden
Unrichtigen fich abgrenzt; die bereits ausnehmend frei
gebildeten Berichte feines Hauptgewährsmannes Ekkehard
hat der Verf., flatt fic zu flehten, noch farbenreicher ausgemalt
, oder auch, um den gewünfehten Effect zu erreichen
, ohne die Grenzlinie zu bezeichnen mit eigenen
Zuthaten ergänzt — ich erinnere nur an die Art, wie
die Erzählung vom Befuche der beiden Ottonen im
Klofter ausgefchmückt ift —, und er fchreckt zu Ehren
feines Ratpert auch vor den kühnften Sprüngen von der
Möglichkeit zur Wahrfcheinlichkeit und von diefer zur
Gewifsheit nicht zurück, wie wenn er S. 83 die einfache
Vermuthung, dafs Ratpert der Verfaffer des Wörterbuchs
Salomon's habe fein können, fofort als höchfte
Wahrfcheinlichkeit fefthält und ihr den Wunfeh beifügt,
dafs ,die Vaterftadt Ratpert's es fich zur Ehre anrechnen
möchte, diefes Hauptwerk ihres erften Gelehrten
der Mitwelt wieder zugänglich zu machen.' Und nachdem
fo der Verf. im Verlauf feiner Darfteilung einen
Kranz um den anderen auf das Haupt feines Helden
gelegt hat, überrafcht er uns zum Schluffe durch

das Geftändnifs, dafs möglicher Weife diefe Züge gar
nicht alle diefem Einen, fondern zwei Männern gleiches
Namens angehören könnten, deren Erfter der Zürcher
Gelehrte, fowie der Verf. der Chronik und der Gedichte
über den heil. Gallus und über die Fraumünfterkirche,
und. deren Zweiter erft, etwa ein Menfchenalter fpäter,
der berühmte Lehrer und der Träger der meiften von
Ekkehard berichteten Züge gewefen wäre. Dafs die Antwort
auf diefe Frage namentlich angeflehts der Angaben
des Urkundenbuchs keine leichte ift, wird jeder Kundige
bereitwillig zugeftehen, befonders nachdem Meyer von
Knonau in feiner Ausgabe des Ekkehard die Unvereinbarkeit
des von diefem über Ratpert Erzählten mit anderen
Nachrichten dargethan hat; denn man mag nun
der von Dümmler in der Epistola Ermcnrici vorgefchla-
genen Acnderung des Richperti in Ratpert: zuftimmen
oder nicht — der Verf. felbft weift S. 203 mit Recht darauf
hin, dafs durch das Urkundenbuch (vgl. Nr. 474. 489. 502)
die Exiftcnz eines Richbert um die Mitte des 9. Jahrh. in
St. Gallen gefichert ift, während umgekehrt der Name
Ratpert erft zwifchen den Jahren 876 und 902 dort vorkommt
(vgl. Nr. 596 u. 721), und wie leicht ift es denkbar
, dafs auch jener um gewiffer von der Nach/velt ver-
geffener Verdicnfte willen von einem überhaupt zum
Uebertreibcn geneigten Lobredner, wie Ermanrich einer
war (vgl. Wattenbach Gefchichtsquellen 3. A. I. 211), zu
feinen Lebzeiten als Dichter gefeiert und dann doch
durch die unmittelbar folgende höhere Entwickelung der
Dichtkunft wieder in Schatten geftellt wurde, — es bleibt
doch als ficheres Datum für die dichterifche Thätigkeit
Ratperts das Jahr 859, als das Todesjahr der von ihm
gefeierten Hildegard; wie durfte nun aber der Verf.,
diefes Datum im Auge (S. 187), ja fogar nach S. 81 und
208, offenbar wieder durch dieFreudeüber den neuenEhren-
titel feines Landsmanns geblendet, der erwähntenConjectur
Dümmler's zuftimmend, dennoch wieder in allen Punkten
dem Bericht Ekkehard's folg« n, der ihn in die Gefell-
fchaft von Notker und Tuotilo verfetzt und damit um
mehrere Jahrzehnte hinunterrückt? Er hätte eben die
ganze Frage nach der Vereinbarkeit der verfchiedenen
Nachrichten flatt erft nachträglich vielmehr am Anfang
fich (teilen, oder wenn fie ihm vielleicht erft hinterher
in ihrer ganzen Schärfe zum Bewufstfein kam, fich durch
diefelbe zu einer nochmaligen Rcvifion feiner Schrift
follen bewegen laffen, was ihr auch in ftyliftifcher Hinficht
hie und da zum Vortheil hätte gereichen können.
Immerhin follen ihr durch diefe Ausftellungen ihre fon-
ftigen Verdicnfte nicht gefchmälert werden; fie wird als
kirchengefchichtliches Culturbild immer mit Gewinn ge-
lefen werden; nur meint Ref., dafs ,der erftc Zürcher-
gelehrte' nichts verloren haben würde, wenn an der Aufrichtung
feines Denkmals die Phantafie etwas weniger
und die hiftorifche Kritik etwas mehr Antheil gehabt
hätte.

Bafel. R. Staehelin.

I Woker, Prof. Dr. Philipp, Das kirchliche Finanzwesen der
Päpste. Ein Beitrag zur Gefchichte des Papftthums.
Nördlingen 1878, Beck. (VII, 225 S. gr. 8.) M. 4.40.

Diefes J. von Döllinger gewidmete Buch ift entftanden
aus Artikeln, welche im .Deutfchen Merkur' von 1875
veröffentlicht worden waren. Der Verf. will es hingenommen
wiffen ,als den erften Verfuch einer zufammen-
faffenden Darftellung des auf dem Titel angekündigten
Gegenftands', ift aber der Ueberzeugung, dafs bei der
Zerltreuung des Materials und dem Mangel an Vorarbeiten
eine wirklich vollftändige Gefchichte des päpft-
lichen Finanzwefens fo bald nicht zu fchreiben fein wird.
Trotzdem ift fein Unternehmen höchft dankenswerth und
es ift hier fehr reicher Stoff zufammengetragen und verarbeitet
.