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Ausgabe:

1878 Nr. 17

Spalte:

421-423

Autor/Hrsg.:

Mangold, Wilh.

Titel/Untertitel:

Die Bibel und ihre Autorität für den Glauben der christlichen Gemeinde. Ein Vortrag 1878

Rezensent:

Kaftan, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 17.

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fieht, dafs in ihm das Bewufstfein von dem wahren Wefen
des Menfchen und von feiner urfprünglichen Einheit mit
dem göttlichen Wefensgrunde zum erften Male als heils-
gefchichtlicher Wendepunkt für das Gefammtleben hervorgetreten
. Und ein fpecififcher Offenbarungscharakter
Chrifti fleht ja auch mit Schenkels Offenbarungsbegriff
in Widerfpruch. Ferner ift es kein klarer Gedanke, dafs
die Vorfehung aus dem Wefensgrunde der Menfchheit
(diefer offenbar wieder als empirifch-reale verborgene
Thatfächlichkeit gedacht), der von der nur zur Erfchein-
ung gehörigen Sünde unberührt geblieben, einen neuen
geiftesmächtigen Heilsanfang habe hervorgehen laffen.
Und was die Wirkung Chrifti anbetrifft, fo mag man in
noch fo volltönenden Ausdrücken 'davon reden, dafs in
den von Chrifto ausgehenden Wirkungen die Uebermacht
des Guten der des Böfen einen unüberwindlichen Damm
entgegenfetzt, dafs ein neuer Lebenskeim in ihm der
Menfchheit eingepflanzt ift, dafs er das Geiftesleben der
an ihn Glaubenden neu entzündet, in immer weitere Kreife
gleichfam eine elektrifche Kette zieht: wenn Chrifti Bedeutung
darin aufgeht, das überall gleiche und überall
an fleh vorhandene, nur gehemmte Gottcsbewufstfein
der Einzelnen durch die eminente Kräftigkeit des Seinigen
anzuregen, fo ift der Sinn jener phyfifchcn Bilder einfach
der, dafs der gefchichtliche Jefus für die Einzelnen
Vorbild ift und etwa noch eine äftheti fch e Anziehungskraft
ausübt. Nicht die Perfon, das Princip ift dann der Er-
löfer und die Perfon findet ihren Platz in der Lehre von
den Gnadenmitteln. Auch die Einzigartigkeit Chrifti läfst
fleh fo nicht fichern, da die höchfte empirifche Intenfität
ftets noch einer Steigerung fähig ift. Hat das Gottesbe-
wufstfein Chrifti keine fpeeififche Qualität, fo ift die reli-
giöfe Schätzung, die ihm von der chriftlichen Gemeinde
zu Theil wird, durch nichts zu erreichen. Ebenfowenig wie
bisher ift Sch. in der Lehre von der Heilsgemeinfchaft
auf die Tragweite der gefchichtlich feftftehenden Abfleht
Chrifti aufmerkfam, eine neue religiöfe Gemeinde zu
ftiften; da ift es denn nicht befremdlich, wenn er, kurz
gefagt, die fittliche Erneuerung der Verformung überordnet
und fo ftatt der religiöfen Selbftbcurtheilung, zu
welcher die gefunde reformatorifche Lehre anleitet, der
mittelalterlichen, im Pietismus fortwirkenden Methode
fleh anfchliefst.

Auch inhaltlich kann Ref. nicht dafürhalten, dafs
das Buch für feinen Zweck geeignet ift. Für dies Ur-
theil liegt der Grund nicht blofs in den entgegengefetzten
theologifchen Mafsftäben, denen er folgt, am weniglten
darin, dafs er zu dem empirifchen Supranaturalismus
fleh bekennte, den Sch. bekämpft — er liegt vor Allem
in der grofsen Unklarheit, die diefer Glaubenslehre in
den Principien wie im Detail eigen ift.

Torgau. J. Gottfchick.

Mangold, Prof. Dr. Wilh., Die Bibel und ihre Autorität
für den Glauben der christlichen Gemeinde. Ein Vortrag.
Berlin 1878, Dobberke & Schleiermacher. (25 S. gr.8.)
M. — 80.

Diefer Vortrag ift in Frankfurt a/M. vor einem Kreis
gebildeter Chriften gehalten worden, um die Gefichts-
punkte zu entwickeln, von denen aus fleh die richtige
Würdigung der Bibel von Seiten der chriftlichen Gemeinde
zu vollziehen hat. Auf Verlangen hat der Hr. Verfaffer
den Vortrag drucken laffen, um durch öffentliches Wort
zu einer Verhöhnung der religiöfen und wiffenfehaftlichen
Intereffen in diefem fpeciellen Punkt beizutragen. Die
religiöfe Autorität der heiligen Schrift foll unverbrüchlich
gewahrt, aber das durch die orthodoxe Lehre über
die Schrift zugemuthete sacrificio de//' intelletio abgewiefen
werden.

Der Vortrag gliedert fleh in vier Abfätze. Die beiden
erften fchildern die Entftehung des Kanons und die kirchliche
Infpirationslehre. Der dritte kritifirt die letztere
und bezeichnet fle fowohl wie moderne Abfchwächungen
und Umbildungen derfelben als unhaltbar. Im vierten
endlich wird der religiöfe Werth der Bibel mit warmen

1 Worten hervorgehoben.

Uniäugbar ift die Aufgabe, um welche diefer Vortrag
fleh bemüht, eine der fchwierigften, die es giebt.

{ Unvermeidlich entftehen im Zufammenhang der religiöfen
Begriffsbildung neben den Hauptbegriffen, welche die
Eigenthümlichkeit der betreffenden Religion ausdrücken,
andere fecundäre Begriffe, die fleh auf Quelle und Autorität
derfelben beziehen. Ebenfo unvermeidlich fcheint

j es, dafs diefe fecundären Begriffe in der Frömmigkeit
eine grofse Rolle fpielen. Wird eine theologifche Umbildung
der religiöfen Hauptbegriffe nothwendig, fo ift
das zwar fchwierig genug, aber es hat feine Richtfchnur
und fein Maafs daran, ob es in der That gelingt, die
alten Motive der chriftlichen Religion für das fromme
Leben der Gemeinde in verbefferter Weife fruchtbar zu
machen; dahinter kann (und follte) die für die Frömmig-

j keit werthlofe Kritik des überlieferten zurücktreten, um

| der theologifchen Schule vorbehalten zu bleiben. In
den fecundären Begriffen handelt es fleh dagegen um
eine nicht im Zufammenhang mit der Religion felbft,
fondern erft fpäter entftandene religiöfe Werthfehätzung
gefchichtlicher Gröfsen. Werden nun diefe daneben zum
Gegenftand unbefangener gefchichtlicher Prüfung gemacht
, fo ift der Confiict unvermeidlich. Und hier

l fcheint der Weg, der bei etwaiger Umbildung der Flaupt-
begriffe felbft zu betreten ift, verfchloffen, weil die der
Wahrheit gemäfse hiftorifche Kritik die religiöfe Werth-
fchätzung in ihrer überlieferten Form nicht blofs limitirt,
fondern geradezu ausfchliefst. Dennoch darf die Aufgabe
hier nicht anders gefafst werden; es kommt auch
hier darauf an, das zu Grunde liegende religiöfe Motiv
in neuer Weife fruchtbar zu machen und die Kritik
dahinter zurücktreten zu laffen, welche hier ebenfogut
für die Frömmigkeit werthlos und unfruchtbar ift. Es
verhält fleh auch keineswegs fo, dafs es fleh dabei nur
um die Verföhnung wiffenfehaftlicher und religiöfer Intereffen
handelt; es ift geradezu ein Intereffe der Religion
felbft, dafs in der Lehre von der Schrift die Aufmerkfam
keit auf einen andern Punkt als auf die Infpiration
und die darauf begründete Unfehlbarkeit des Schrift-
Wortes gelenkt werde. Denn heut zu Tage wird, wo

j man in englifcher Weife das Bibelchriftenthum betont,

! die Apologetik in falfche Bahn geleitet, da fle in der
Vertheidigung der chriftlichen Religion alles immer wieder
auf diefen fecundären Begriff bezieht; die Eigenthümlichkeit
der chriftlichen Religion kann darunter Schaden
leiden, der frommen Neugier wird ein zu grofser Spielraum
gelaffen, deffen gar nicht zu gedenken, dafs die
theologifch ungebildete d. h. falfche willkürliche Schriftauslegung
freies Spiel hat.

So dringend ift alfo diefe fchwierige Aufgabe. Und
zur Löfung derfelben ift noch fo gut wie gar nichts ge-

j fchehen, d. h. Kritik ift genug da, aber die fruchtbaren
Neubildungen fehlen. Unfere Theologie begnügt fleh

I meiftens mit Halbirungen wie z. B. einer Gradunterfchei-
dung in der Infpiration, Befchränkung derfelben auf ge-

1 wiffe Beftandtheile der Schrift oder dem geflügelten Wort,
dafs die Schrift nicht Gottes Wort fei, aber Gottes Wort
enthalte. Von alle dem ift in Mangold's Vortrag mit
Recht abftrahirt. Aber auch in diefem wie in ähnlichen
Vorträgen bildet die Kritik und Berichtigung der überlieferten
Vorftellungen den Hauptinhalt. Und der pofi-
tive Theil befchränkt fleh darauf, den erfahrungsmäfsigen

I Werth der Schrift für die Belebung des religiöfen Gefühls
und des guten Willens hervorzuheben. Wenn man
fleh aber daran genügen läfst, dann verwechfelt man eine
verftändige Ausfage über den Werth der Schrift für das
religiöfe Leben mit einem Begriff, welcher die religiöfe
Werthfehätzung der Schrift ausdrückt. Einen folchen