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Ausgabe:

1878 Nr. 16

Spalte:

393-395

Autor/Hrsg.:

Variot, Jos.

Titel/Untertitel:

Les Évangiles apocryphes. Histoire littéraire. Forme primitive. Transformations 1878

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 16.

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Variot, Abbe Dr. Jos., Les Evangiles apocryphes. Histoire
litteraire. Forme primitive. Transformations. Paris
1878, Berge & Tralin. (XIII, 500 S. gr. 8.) Fr. 7. 50.

Der Verfaffer, welcher feiner Arbeit die jetzt übliche
,Declaration' vorausgefchickt hat: ,Je soumets mon iravail
aux dicisions de l'autorite Infaillible du Saint-Siege Apo-
stolique . . ■ non sculcmcnt tout ce qui serait contraire a
cette tradition, viais jtisqu'aux details, jusqu'aux expressions
qui pourraient donner prise h quelque Interpretation equi-
voque', ift fich bewufst {Preface p. XI) eine Aufgabe in
Angriff genommen zu haben, an der fich bisher noch
Niemand verfucht hat. Eine Gefchichte der apocryphen
Ew.-Literatur wollte er fchreiben und zwar fo, dafs fo-
wohl der gefammte Umfang diefer eigenthümlichen Gattung
, als auch die urfprünglichen Recenfionen der einzelnen
Schriftftücke, ihre Anlage, weiter aber auch die
Gefchichte ihrer Umbildungen und Erweiterungen, fowie
der Einflufs, welchen fie auf die Literatur, den Cultus
u. f. w. ausgeübt haben, deutlich hervortrete. In
der That konnte es dem Verf. nicht fchwer fallen, durch
einen Ueberblick über das auf diefem Gebiete bereits
Geleiftete zu zeigen, wie unvollkommen diefe Aufgabe
bisher erfafst fei. Die Vorarbeiten, fowohl die deut-
fchen, wie die englifchen, die älteren und die neueren,
find dem Verf. faft fämmtlich bekannt geworden. Ref.
hat nur die Abhandlung von Lipfius und die an diefe
fich anfchliefsenden Unterfuchungen über die Pilatusacten
fowie die Differtation von R. P. WüIcker, das Ev. Nicodemi
in der abendl. Literatur (Paderborn 1872; und
die weiteren Publicationen diefes Gelehrten vermifst.
Auch Creizenach's Unterfuchungen über die Pilatus-
und Judas-Ifcharioth-Legenden hätten nicht überfehen
werden dürfen. Den Stoff hat Variot in drei Bücher
vertheilt. In dem erften (S. 1—138) handelt er unter der
Ueberfchrift ,Hist. litter. des ew. apoer.' von der Bedeutung
und der Gefchichte des Begriffs ,evangelium apoery-
phum', giebt eine Ueberficht über die uns erhaltenen
oder dem Titel nach bekannten Evangelien, claffificirt
diefelben und befpricht eingehender die erfteren. Sie
werden in zwei Claffen getheilt: Les ew. apoer. des
premieres annees du Sauvcur und des derniires annees du
Sauveur. In der erften Gruppe unterfcheidet er gric-
chifche (Protev. Jacobi . Ev. des Thomas), lateinifche
(Ev. des Pfcudo-Matthäus . Geburt der Maria) und ara-
bifche {Ev. infantiae . Historia Josephi fabri) Recenfionen.
Für die zweite Gruppe ftcht das Evang. Nicodemi {Acta
Pilati. Desccnsits ad in/".) im Mittelpunkt; die kleineren
Berichte (Briefe des Pilatus, Bericht des Pilatus, Tod etc.)
werden an dasfelbe angefchloffen. Diefes ganze erfte
Buch hat durchaus einen einleitenden Charakter. Aber
leider ift diefe Einleitung wenig nutzbringend. Der Verf.
begnügt fich, die wichtigften Daten, wie fie Andere fchon
ermittelt haben , zufammcnzuftcllcn. Gerade die älteften,
freilich kaum noch in Trümmcrftücken erhaltenen
,apocryphen' Ew. find fo gut wie gar nicht berückfichtigt.
Der Verf. hat fie alphabetifch (S. 20 f.) nach R. Hofmann
's Art. in der R.-Encyklopädie aufgeführt und es
dabei bewenden laffen. Nur das Hebräerev. wird im
3. Buche ausführlicher kritifirt. .

In dem 2. Buche foll die Forme primitive des recits
ermittelt werden (S. 139—328). Es werden aber nur
die drei Schriften, das Protev. Jacobi, das Ev. des
Thomas und das Ev. Nicodemi, unterfucht. Ich will
nicht in Abrede ftellen, dafs in den überaus weitfehwei-
figen Ausführungen Manches Bcachtenswerthe und Richtige
enthalten ift. Auch ift der Grundfatz, dafs jene
Schriftftücke zunächft in keinem Sinne als hiftorifche
Urkunden fondern als Erzeugnifse frommer orientalifcher
Poefie verftanden fein wollen, an fich nicht falfch. Es
ift nur die Frage, wie man diefen Canon, auf den fich
der Verf. viel zu gute thut, wiederum verfteht und anwendet
. Er polemifirt mit Emphafe nicht nur durch-

gehends gegen die tübingen'fche Schule, fondern auch
gegen die ,euhemeriftifche' deutfehe Kritik überhaupt
(f. bef. S. 223 f.), die fich nach Auffaffung des Verf.'s
aus der rationaliftifchen Naivetät nicht herauszuarbeiten
vermag. {La credulite populaire est contagieuse, meine
parmi les chretiens. — L'imagination Orientale renche-
rit sur toutes les donnecs primitives. Elle s'efforce de com-
bler les lacunes par des analogies tirees de l'Ancien et du
Nouv. Test. — La critique moderne ne sc fait pas unc
juste idee de la moniere dont s'elaboraient ces compositions
laintaines). Aber er felbft fetzt wefentlich die Bewunderung
des anmuthig zarten fittlich-religiöfen Sinns und
den Appell an die orientalifche Phantafie, welche fich in
jenen Schriftftücken ausfprechen foll, an die Stelle des
deutfehen rationaliftifchen Hiftorifirens; denn was er als

! Hiftorifches beibringt, ift fo gänzlich verfehlt und nich-

j tig, dafs es nicht einmal eine Widerlegung zuläfst, da
jeder Boden einer Verftändigung fehlt. Er fehlt aber

i defshalb, weil der Verf. feine Ausführungen in das ka-

j tholifche Gefchichtsbild einzeichnet, deffen Züge ihm
feftftehen. Wird aber die Entwickelung im 2. und 3.
Jahrh. fo befchrieben, wie das in jenem Lager der Fall
ift, wie will man fich dann über jene Schriftftücke ver-
ftändigen, deren Interpretation doch gänzlich abhängt
von den Erkenntnifsen, die man aus den verhältnifs-
mäfsig deutlichen Quellen jenes Zeitalters zu fchöpfen
hat. Uebrigens hat Variot mit feinem Grundfatz, die
Kindheitsgefchichten zunächft fo zu betrachten wie die
Legenden von der Kindheit des h. Franziscus, nicht
durchgehends Ernft gemacht. In dem Protev. Jacobi
erkennt er eine Reihe hiftorifcher Züge an. Natür-

| lieh find das diejenigen, deren fich der katholifche

j Marienkultus bereits bemächtigt hat. Die Unterfuchung

j über die Pilatusacten beginnt mit fehr verftändigen Erörterungen
: Les Actes de Pilale sont unc Sorte d'apologic
sous forme de recit. Aber fehr bald ftellen fich auch
hier Ausführungen ein, die den urfprünglichen Gewinn
aufheben. Der Verf. glaubt an einen »fficiellen Bericht
des Pilatus an den Kaifer über Chriftus, er glaubt an
die Tiberius-Legenden; dabei ift ihm der arge Verftofs
paffirt, die bekannte Stelle aus Lampridius über Hadri-
an's und Alex. Severus' Beziehungen zum Chriftenthum
als dem Tiberius geltend zu behandeln (S. 264 n. 3).
Ueberhaupt fehlen auch fonft gefchichtliche Verftöfse
nicht. Deshalb wird man fich auch von der anderen

j Arbeit des Verf.'s, die er S. 263 citirt {De Plinio Juniore
et Imp. Traiano apud Cliristianos et de Christianis apud
Plinium Jim. et Imp. Traianum . Lutetiae Paris. 1878),
nicht viel verfprechen dürfen. Uebrigens ift der Verf.
davon entfernt, zu behaupten, die uns überlieferten Pilatusacten
hätten mit den genuinen im Archiv etwas zu
thun. Er erkennt an, dafs fchwerlich ein Chrift im
2. Jahrh. diefe gefehen hat. Aber man wufste ungefähr,

| was fie enthielten, refp. enthalten mufsten. Die Gefchichte
der Pilatusacten, ihrer Transformationen und Erweiterungen
wird unter Berückfichtigung der jüdifchen und
heidnifchen Fictionen (Maximin; erzählt; aber zu einer
eingehenden quellenkritifchcn Unterfuchung kommt es

| doch auch hier nicht. In dem Abfchnitt endlich über
den ,Dcscensus ad inferos' wird wiederum fehr richtig auf
die vielgelefenen profanen Dichtungen, welche ähnliche
Stoffe behandeln, aufmerkfam gemacht; indeffen fcheut
fich der Verfaffer doch folche Vcrgleichungen wirklich
nutzbringend auszubeuten. Die Unterfuchungen
über die dunklen Geftalten, die als Verf. diefes oder
jenes apocryphen Schriftftücks genannt werden, wie
über jenen Leucius, find ganz dürftig.

In dem 3. Buche (S. 329—458) foll die Gefchichte
der apoer. Ew. in der Kirche unterfucht werden. In

! dem erften Cap. handelt der Verf. vom Hebräerevang.

I Er fetzt fich dabei wefentlich mit Hilgenfeld auseinander
und fchliefst feine Ausführungen mit dem Urtheile

I Patrizzi's: LEs>angile syro-chaldeen de s. Matthieu,