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Ausgabe:

1878 Nr. 13

Spalte:

324-325

Autor/Hrsg.:

Bienengräber, Alfr.

Titel/Untertitel:

Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Predigten 1878

Rezensent:

Krauss, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 13.

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laftiker und die Kirchenväter die Lehre von der Verformung
überhaupt nicht richtig dargelegt haben, das
behauptet Kreibig fehr nachdrücklich. Wie follen wir
uns denn aber das Lieblingsprädicat ,biblifch-kirchlich'
erklären, mit dem er eine gewiffe Richtung von Theorien,
feine eigne vorab darin inbegriffen, als eine einheitliche
zufammenfafst? Stellt wirklich die Bibel die Verföhn-
ungslehre in allen ihren einzelnen Büchern übereinftim-
mend dar? S. 198 wagt Kreibig in Bezug auf die Sünde
das Dilemma: gleichviel ob bei einer determiniftifchen
oder bei der biblifchen Auffaffung'. In diefem Dilemma
liegt erftlich , dafs die determiniftifche Auffaffung der
Sünde unbiblifch, und zweitens, dafs eine einheitliche
biblifche Auffaffung der Sünde vorhanden fei. Mit einer
folchen biblifchen Theologie kann ich mich allerdings
nicht auseinanderfetzen. Ich rechne es zu den ficher-
flen Ergebnifsen der gefchichtlichen Bibelerforfchung,
dafs' lieh die determiniftifche und die indeterminiftifche Anficht
mit gleichem Rechte auf die Bibel berufen können,
weil die verfchiedenen biblifchen Schriftfteller felber von
verfchiedenen Anflehten ausgehen. Der biblifche Lehrbegriff
ift ungefähr fo einheitlich und fo vielgeftaltig
wie der Lehrbegriff des Reformationszeitalters. Speciell
den Determinismus betreffend hiefse es Waffer in den
Rhein tragen, wenn man erft noch für Paulus z. B. die
prädeftinatianifche Weltanficht nachweifen wollte. Aber
freilich wenn überhaupt eine biblifch-kirchliche Lehre
herauskommen mufs, neben welcher alle andern Lehren
unbiblifch und unkirchlich fein follen, fo hat die Exe-
gefe eine andere Aufgabe als nur die, den eigentlichen
Sinn des Schriftftellers zu erforfchen. Was füllte aber
unmöglich fein, wenn man wie Kreibig S. 202 von
Chrifto fagen kann: ,Nur als der Gottmenfch endlich war
er im Stande, nach geleifteter Genugthuung das in feinem
Bewufstfein nie ganz gelöfte Band mit dem Vater nicht
nur fofort für fich felbft wieder anzuknüpfen, fondern
auch etc.' Alfo ein nie ganz gelöfles Band wird fofort
wieder angeknüpft, und dazu bedarf es eines Gottmen-
fchen. Ich enthalte mich jeder Anmerkung hiezu.

Solche unausgedachte Gedanken find aber bei Kreibig
nicht etwa blofs vereinzelt zu treffen. Um noch ein
anderes Beifpiel anzuführen, verweife ich auf feine Be-
fprechung der Erbfünde. Er wendet grofse Mühe auf,
um letztere mit der perfönlichen Verantwortlichkeit des
Menfchen in Uebereinftimmung zu bringen. Die directe
Zurechnung der Sündenfchuld Adam's weift er zurück.
Unwillkürlich fühlt man fich zuerft an die placäifche
Lehre, dann an Zwingli erinnert. Aber feierlich verwahrt
fich Kreibig dagegen. S. 75: ,Für uns ift die
menfehliche Sünde kein Aggregat aus zwei verfchiedenen
Beftandtheilen, deren einen wir nur als ein Wider-
fahrnifs von aufsen her beklagen müfsten, während wir
den andern uns felbft als unfere Schuld zuzufchreiben
hätten, und die deshalb beide einer ganz entgegengefetzten
Beurtheilung unterliegen ; fondern es ift ein und
dasfelbe Böfe, welches urfprünglich die That und das
Eigenthum des Gefchlechts und feines Stammvaters,
durch perfönliche Aneignung That und Eigenthum jedes
Einzelnen wird, und für das jeder Einzelne deshalb auch
ganz und ungetheilt die Verantwortung trägt'. Sieht
denn Kreibig nicht, dafs es keiner perfönlichen Aneignung
mehr bedarf, wenn das Böfe fchon urfprünglich
That und Eigenthum des Gefchlechts ift? und dafs, wenn
es erft noch perfönlich angeeignet werden mufs, um
Eigenthum jedes Einzelnen zu fein, es dann nicht blofs
keine Erbfünde, fondern nicht einmal mehr Erbübel ift?
Sieht Kreibig nicht, dafs fein Gedanke Nichts weiter
als eine contradictio in adjecto ift? Gerade, weil die Syn-
thefe von Erbfünde und perfönlicher Verantwortlichkeit,
die Kreibig fo viel zu fchaffen macht, auch für Zwingli
fchwierig war, Hellte fich Zwingli der überkommenen
Theorie auch entgegen; aber Zwingli war ein klarer
Denker und nannte darum treffend die Erbfünde ein

Erbübel, von den Vorausfetzungen aus , von denen Kreibig
ausgeht, das einzig Richtige. Kreibig hingegen hüllt
feinen Zwinglianismus in Nebelwolken und bietet uns
einen Ungedanken dar.

Ich fchliefse hier eine allgemeinere Betrachtung an.
Bei den meinen neueren dogmatifchen Arbeiten und
fo auch bei Kreibig macht fich der Mifsftand geltend,
dafs fie von den reformirten Anflehten keine aus eigner
Quellenunterfuchung gefchöpfte Kenntnifs befitzen. Ein

{ Bischen Zwingli, Calvin und Niemeyer genügt noch lange
nicht, befonders wenn diefes Bischen nur nach Anleitung
von lutherifchen Dogmatiken und Symboliken erworben
worden ift. Der Lutheraner Schneckenburger fagte, die
moderne Theologie fei von reformirten Ideen beherrfcht.
Er fprach die Wahrheit. Schleiermacher ift nicht blofs
feiner Geburt fondern auch feiner Lehre nach reformirt;
Ritfehl ift ohne die Reformirten nicht zu verliehen.
Auch in den confeffionell lutherifchen Schriftftellern begegnen
wir fortwährend Gedankenverbindungen, welche
in Zürich und Genf angefponnen worden find. Befitzt
nun ein Schriftfteller nur lutherifches Quellenmaterial,
fo entgeht ihm für feine eignen, ihm unbewufst immer
vielfach reformirt influenzirten Gedanken die hiftorifche
Beleuchtung, und fo kommt es denn, dafs längft verrichtete
Arbeit immer wieder aufs Neue und zwar immer
wieder ohne ficheren Grund mit dem Erfolg des blofsen

; Experimentirens gethan wird. Die ganze Arbeit befäfse
dagegen den feiten Unterbau, wenn fich der Dogmatiker
zuvor, wie es feine dogmenhiftorifche Pflicht gewefen,
bei den reformirten Syftematikern des fiebzehnten Jahrhunderts
eben fo fleifsig umgefehen hätte, wie bei den
lutherifchen Orthodoxen. Speciell Kreibig würde dadurch
in jeder Hinficht nur gewonnen haben.

Der in dem Buche von Kreibig herrfchenden ethi-
fchen und religiöfen Gefinnung kann man feine Sympathie
nicht vertagen, aber der Mangel an logifcher
Schulung der Gedanken und die Einfeitigkeit in der dog-

! menhiftorifchen Orientirung find zu grofs, als dafs man
fich fchliefslich befriedigt fühlen könnte.

Strafsburg i. E. Alfred Kraufs.

Bienengräber, Pfr. Dr. Alfr., Die Liebe ist des Gesetzes
Erfüllung. Predigten. Bremen 1878, Müller. (IV, 218
S. 8.) M. 2. 20.

Diefe Predigten find vor einer gewöhnlichen Gemeinde
und zugleich vor Strafgefangenen gehalten. Rühmend
ift zu erwähnen, dafs die Rückfichtnahme auf die letzteren
der allgemeinen Erbaulichkeit keinen Eintrag thut.
Bienengräber fieht in allen Zuhörern zunächft den Menfchen
, ohne dafs er dem fpeciellen Weh, wo ihn fein
Pfad gerade darauf führt, ängftlich aus dem Wege ginge.
Um fo ergreifender wirkt es, wenn er auf die Gebrechen
der Anftaltsinfaffen eintritt. Ueberhaupt ift ein ernfter
Sinn und eine herzliche Liebe der Grundton diefer Reden.

Sehen wir uns fie aber in Bezug auf Schrifterklärung,
Texteserfchöpfung und ftrengen Zufammenhang des Gepredigten
mit den zu Grunde gelegten Bibelworten an,
fo wären manche Ausheilungen zu machen. Auch über
die Schemata liefse fich vielfach rechten. Der Verfaffer
liebt es, ftatt die Gedanken zu entwickeln, auf dem
Wege der Aneinanderreihung, insbefondere der Indivi-
dualifation und Amplification vorzufchreiten. Auf diefem
Wege erblüht aber der Gedankenreichthum feiten, und
nur zu leicht erliegt man der Verfuchung, allbekannte
Citate und Beifpiele zu wiederholen und durch gefuchte
Ausdrücke den Mangel an originalem Inhalte zu verdecken
. Die Zuhörer, vor welchen diefe Predigten ge-

I halten wurden, mögen fich an ihnen erbaut haben; denn
aus der Menge der Predigten, welche über die Kirch-

J gänger ergehen, heben fich diefe Reden im Allgemeinen