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Ausgabe:

1878 Nr. 10

Spalte:

231-232

Autor/Hrsg.:

Gess, Wolfg. Friedr.

Titel/Untertitel:

Christi Person und Werk nach Christi Selbstzeugniß und den Zeugnissen der Apostel. 2. Abth. 1. Hälfte 1878

Rezensent:

Weiß, Bernhard

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Theologifche Literaturzeitung. 1878. Nr. 10.

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völlig unfruchtbar find, bedarf keines Nachweifes. Aber
damit foll nicht gefagt fein, dafs nicht Vieles, namentlich
in den beiden letzten Theilen der Schrift, wohlthuend
zu lefen ift. Hier tauchen nicht nur oft völlig gefunde und
richtige hermeneutifche Grundfätze auf, über deren Anwendung
fich nur der Verfaffer bei feinen dogmatifchen
Vorausfetzungen nothwendig felbft täufchen mufs, es
findet fich hier eine Fülle feiner finnvoller Bemerkungen
über Symbolik und Allegorie, Typus und Prophetie, über
die innere Einheit der göttlichen Offenbarung und den
Fortfehritt ihrer Verwirklichung, gefchöpft aus liebevoller
Vertiefung in die Schriftwahrheit und lebendigem
Glauben an die göttlichen Heilsthaten, die man auch
von anderen Standpunkten aus verwerthen kann und
deren feffelnde Form auch da anzieht, wo man über
die handgreiflichen Fehlfchlüffe des Verfaffers und die
Naivetät feiner Art, fich mit wiffenfehaftlichen Zweifeln
abzufinden, ftaunen mufs.

Berlin. Dr. Weifs.

Gess, Confift.-R. Prof. D. Wolfg. Friedr., Christi Person
und Werk nach Chrifti Selbftzeugnifs und den Zeug-
nifsen der Apoftel. 2. Abth. A. u. d. T.: Das apofto-
lifche Zeugnifs von Chrifti Perfon und Werk nach
feiner gefchichtlichenEntwicklung dargeftellt. 1.Hälfte.
Bafel 1878, Bahnmaier. (X, 383 S. gr. 8.) M. 6. —

Nach langer Paufe erfcheint hier die Fortfetzung des
1870 begonnenen biblifch-theologifchen Werkes von
Gefs über Chrifti Perfon und Werk. Den Haupttheil
der vorliegenden erften Hälfte der 2. Abth. füllt die Erörterung
des paulinifchen Zeugnifses, der nur die Erörterung
der (hauptfächlich petrinifchen) Reden im erften
Theil der Apoftelgefchichte und der Anfchauung des
Jacobusbriefes fowie der im Hebräer- und Römerbriefe
vorausgefetzten Anfchauung der Gemeinde zu Jerufalem
und der römifchen Judenchriften vorhergeht. In Betreff
des paulinifchen Zeugnifses wird einleitend erörtert, was
fich aus den Briefen über die früheften Anfchauungen
des Apoftels ergiebt und als Nachtrag, was aus den paulinifchen
Reden der Apoftelgefchichte zu entnehmen.
Dazwifchen liegt die Befprechung der einzelnen paulinifchen
Briefe in chronologifcher Reihenfolge von den
Theffalonicher- bis zu den Paftoralbriefen, die der Verf.
fämmtlich für echt hält. Hier und da werden auch einzelne
apologetifche Bemerkungen gegen die diefe Echtheit
verneinende Kritik gerichtet und nicht nur, wo es fich
fpeciell um die chriftologifchen oder foteriologifchen
Vorftellungen derfelben handelt. Ueberhaupt beginnt
der Verf. die Erörterung über die einzelnen Briefe meift
mit orientirenden, oft ziemlich ins Detail gehenden Bemerkungen
über die gefchichtlichen Verhältnifse, den
Hauptinhalt und die Abzweckung derfelben und fchreitet
dann von den mehr peripherifchen Punkten zur Befprechung
der wichtigften foteriologifchen und chriftologifchen
Ausfagen fort. In lebensvoller Weife werden diefelben
auf ihren concreten Zufammenhang hin angefehen; ohne
auf alles Detail der Exegefe einzugehen, werden die
Hauptmomente, von denen die Auffaffung derfelben abhängt
, befprochen und fo ihr Sinn und Lehrgehalt zu
eruiren verfucht.

Man kann nicht leugnen, dafs diefe Methode etwas
ungemein frifches, anregendes, ja oft geradezu fpannen-
des hat. Dennoch läfst fich bezweifeln, ob fie für den
Hauptzweck des Buches fehr förderlich war Es fcheidet
fich doch zu wenig das mehr Vorbereitende undUnwefent-
liche von dem für das Zeugnifs des Apoftels Entfchei-
denden, ermüdende Wiederholungen find nicht zu umgehen
, namentlich bei dem immer wieder nothwendigen
Zurückgreifen und Zurückweifen auf parallele Stellen
in früheren Briefen. Wenn der Verf. gewifs mit gutem
Grunde fichtlich die ftrenger dogmatifche Sprache vermeidet
, um die Vorftellungen des Apoftels in ihrer
genuinen Geftalt zur Darftellung zu bringen, fo fehlt es
doch auch den Refultaten oft an der rechten Schärfe
und Klarheit, vor allem aber an einer allfeitigen Zufam-
menfaffung, die doch' erft die vollftändige Ueberficht ermöglicht
. Dafs es auch an dogmatifchen Eintragungen
nicht fehlt, dafür verweife ich nur darauf, wie S. 97 plötzlich
die Vorftellung von einer Zeugung aus dem Vater
auftritt, die lediglich durch die parenthetifche Bemerkung
gerechtfertigt wird: ,denn die Sohnfchaft fetzt doch wohl
Zeugung voraus' (vgl. S. 197. 211. 272), obwohl dies
doch zum minderten erft für die Anfchauung des Paulus
zu beweifen war. Bei manchen Erörterungen über die
Heilswirkung des Todes Chrifti fcheint mir der Verf.
die Bedeutung desfelben als Vorbedingung der Erhöhung
und Geiftesausgiefsung mit einer fpeeififchen Wirkfamkeit
desfelben zu verwechfeln; bei denen über die Wirkung
der Auferftehung fcheint er mir, foweit nicht eine ähnliche
Verwechslung vorliegt, befonders oft andere mehr
myftifche Vorftellungen in die einfachen paulinifchen
Gedankenreihen einzutragen oder in bedenklicher Weife
die Gerechtfprechung von der Einwohnung des Aufer-
ftandenen abhängig zu machen (vgl. z. B. S. 192). Im
Einzelnen wird man ja überhaupt felbftverftändlich eben-
fo oft freudig einftimmen, wie gründlich abweichen. Aber
der Verfuch für Col. 1, 20 eine der Verföhnung bedürftige
Engelwelt zu conftruiren (S. 245 f.) dürfte doch
wohl nur wenig Beifall finden, und feltfam genug ift
auch die Vorftellung von einem ftufenweifen Einwohnen
der Geiftesgaben in Chrifto (S. 270).

Vergebens erwartet man eine abfchliefsende Erörterung
über die paulinifche Soteriologie und Chriftologie in Ab-
fchn. X: ,Die Genefis der paulinifchen Anfchauung'. So
fehr die gefonderte Behandlung der einzelnen Briefe und die
am Anfange diefes Abfchnitts ftark hervorgehobene Erweiterung
der Anfchauung in den fpäteren Briefen die Annahme
einer allmählichen Entwicklung derfelben erwarten
läfst, fo beftimmt wird diefelbe trotzdem verneint. Und
doch ift damit, dafs der Verf. nachweift, wie vielfach die
ausgebildetften Lehren in perfönlichen Erlebnifsen und
inneren Erfahrungen des Apoftels wurzeln, noch keineswegs
•bewiefen, dafs dem Apoftel diefelben von vornherein in
jener vermittelten Weife mit all' ihren Confequenzen zum
Bewufstfein gekommen find. Was über die Quelle der
paulinifchen Sühnungslehre gefagt wird (S. 362 f.), ift
doch unglaublich dürftig. Gewifs weift G. mit Recht den
Verfuch Hofmann's zurück, die chriftologifchen Ausfagen
Pauli als Reflexionen über ein überliefertes Wort Jefu zu
faffen, was fchon mit Gal. 1, 16 fchlechthin in Wider-
fpruch fleht, aber die Art, wie er fie fich aus Reflexionen
über die durch unmittelbare Offenbarung ihm in ihren
Tiefen erfchloffene ATliche Meffiasverheifsung entftan-
den denkt, ift doch nicht weniger unnatürlich. Die dem
Apoftel nach Gal. 1, 16 gewordene Offenbarung war gewifs
weder mittelbar noch unmittelbar eine Mittheilung
chriftologifcher Lehrfätze, fo wenig wie der offenbarungs-
mäfsige Urfprung feines Plvangeliums (Gal. 1, 12) feine
einzelnen foteriologifchen Lehren deckt. Aber was
dem Apoftel fich kraft fortgehender Erleuchtung durch
den Geht von tieferer Erkenntnifs der Heilswahrheit und
des Heilsmittlers ergab, das hat er gewifs nie von dem
durch unmittelbare Offenbarung ihm gewifs Gewordenen
gefchieden.

Berlin. Dr. Weifs.