Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1876 Nr. 24

Spalte:

627-628

Autor/Hrsg.:

Bertling, Oskar

Titel/Untertitel:

Philosophische Briefe 1876

Rezensent:

Weber, Th.

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

627

Theologifche Literaturzeitung. 1876. Nr. 24.

628

kenntnifs der Kirche und zugleich das Bekenntnifs der
Heilserfahrung jedes Einzelnen. Die theologifchen Folgerungen
daraus find nicht mehr Sache des Bekennt-
nifses, fondern der Schule. Die Geltung der Symbole
ift abhängig von der Sicherheit, mit welcher fie
diefe Heilserfahrung zum Ausdruck bringen. Die
Schrift ift das Zeugnifs diefer Heilserfahrung, hat aber
aufserhalb derfelben keinerlei Unfehlbarkeit. Wo diefe
Heilserfahrung gemeinfam ift, da ift auch das Recht
derKirchengemeinfchaft (Union), — und da ift ohne kirchliche
Gefahr Discuffion über die theologifche Lehre zu-
zulaffen.

Statt deffen denkt fich der Verf. die Sache entgegengefetzt
. ,Die ganze Schriftlehre von der im Reiche
Gottes zu erringenden chriftlich kirchlichen Glaubens-
gewifsheit hat nur unter der Vorausfetzung Sinn , dafs
fich der gemeinfame Gewifsheitsfond auch lehrhaft aus-
geftalte zu gemeinfamem Bekenntnifs. Die Symbole
ltellen das Hineinwachfen in die Glaubensgewifsheit
und Bekenntnifsentfchiedenheit dar'. Zwar ,mufs der
Wahrheitsgehalt der reinen Lehre immer wieder aus
dem materialen Princip des Evangeliums durch das
kirchliche Zeugnifs und die theologifche Wiffenfchaft
hergeleitet werden'. Und ,articuli fundamentales find
nur da, wo fich der unzerreifsbare Wefenszufammenhang
mit dem Einen, was noth thut, nachweifen läfst'. Und
,das kirchliche Zeugnifs foll immer wieder aus der
Schriftforfchung neu geboren hervorgehen'. Aber es
wird doch ohne Weiteres die lutherifche Kirche als
Kirche der ,reinen Lehre' vorausgefetzt. Und wenn
auch dem Laien die Befchränkung auf jene chriftliche
Grunderfahrung zugeftanden wird, fo ift doch die Forderung
, dafs der Geiftliche eben die lutherifche reine
Lehre als chriftliche Glaubensgewifsheit erlebe, — wobei
nach S. 114 auch die Lehre von der communicatio idio-
matutn für einen confeffionell gefchulten und gewiffen-
haften lutherifchen Theologen ein articulus stantis et
cadentis ecelesiae wird.

So verläuft das Buch trotz feiner fchönen Anfänge
in Selbftwiderfpruch. Zu der Forderung perfönlich kirchlicher
Glaubensgewifsheit pafst der Begriff der ,reinen
Lehre' im confeffionellen Sinne nicht. Perfönlich nacherlebte
Ueberzeugung ift auch dem Katholiken feine in
der päpftlichen Unfehlbarkeit gipfelnde Lehre von der
Kirche. Es wird eben nur die Wahl zwifchen zwei Ge-
genfätzen bleiben. Entweder Unfehlbarkeit des Papftes
resp. der Symbole oder des Schriftbuchftabens als Grundlage
kirchlicher Gewifsheit; dann aber keine Conces-
sionen an die Kritik, wie fie der Verfaffcr macht. Oder
wirkliche Glaubensgewifsheit desEinzelnen im Zufammen*
hange feines kirchlichen Lebens. Dann aber keine andere
,reine Kirchenlehre' als der einfache religiöfe Ausdruck
der chriftlichen Erlöfungsgewifsheit. Wohin des Verf.'s
Grundfätze, wohin die Principien unferer Kirche weifen,
dürfte nicht zweifelhaft fein.

Göttingen. H. Schultz.

Bertling, Dr. Osk., Philosophische Briefe. Bonn 1876,
Cohen & Sohn. (VI, 300 S. gr. 8.) M. 5. —

Je mehr die Apologetik von theologifcher Seite in
Mifscredit gebracht worden ift, um fo fchätzenswerther
erfcheint ein aufsertheologifch.es Werk, wie die vorliegenden
,philofophifchen Briefe', das, ohne die apologe-
tifche Tendenz gleichfam als Wahr- und Warnungszeichen
an der Stirn zu tragen, doch im beften Sinne apo-
logetifch wirkt.

Die Briefe haben nach Auslage des Verfaffers zu-
nächft den Zweck, zur felbftändigen Bcfchäftigung mit
der Philofophie anzuregen. Sie führen mit Klarheit und
einem gewiffen Grad von perfönlicher Wärme in die
Kern- und Angelpunkte der philofophifchen Grundprobleme
ein und wollen die ,der Philofophie abgewandten'

Geifter zwingen, darüber nachzudenken. Iii der That
1 wünfehen wir dem Buche befonders in diefer Beziehung
j den beften Erfolg, und mit uns gewifs Jeder, der die

grofsen Mängel des akademifchen Studiums in diefer

Hinficht aus eigner Anfchauung kennt. Freilich fetzt es
I für Studirende gewifs — leider! — oft zu viel voraus,

dürfte aber dadurch nur anregen, das Fehlende durch
1 eignes Studium zu ergänzen. Zudem macht gerade
I diefer Umftand das Werk auch für diejenigen intcreffant,

die fich fchon ,felbftändig' mit der Philofophie befchäf-

tigt haben.

Da wir es mit einem nicht fpeeififeh theologifchen
Gegenftande zu thun haben, fo muffen wir es uns an
diefem Orte vertagen, genauer auf den Inhalt des Buches
j einzugehen. Nur der Hauptgedankengang fei zu weiterer
J Kenntnifsnahme mitgctheilt. Die Briefe zerfallen in 2
Abtheilungen, eine erkenntnifstheoretifche und eine fo
zu fagen angewandte'. Die erftcre dient dem Aufbau
einer in diefer Art originalen erkenntnifstheoretifchen
Grundlegung, des vom Verfaffcr fogenannten Syftems
der dreifachen Caufalität. Die Caufalität erfcheint
als das Grundgefetz zugleich des Seins und des Denkens
und wird in dem räumlichen Schema von Länge (zeitlicher
Verlauf des Werdens und Gefchehens), Breit«
(fimultane Wechfelwirkung oder Beziehungscaufalität) und
Höhe ('unendliche Begründungscaufalität) trefflich veran-
fchaulicht. Ohne der von Dr. B. im hiflorifchen In-
tereffe vorausgefchickten Antikritik des' Kantifchen Kri-
ticismus zuftimmen zu können und trotz des perfönlichen
Mifstrauens gegen allen Schematismus in der Philofophie
— den der Verfaffer übrigens felbft verurtheilt —, können
wir nicht umhin, der Durchführung diefes Gedankens in
den Briefen der zweiten Abtheilung untere vollfte Anerkennung
zu zollen. An der Hand feines Caufalitäts-
fyftems entwickelt Dr. B. eine durchaus klare und in
fich gefchloffcne theiftifche Weltanficht, die zugleich eine
ruhige und nüchterne Beleuchtung der wichtigften heutzutage
auf der Hochfluth des fog. Zeitbcwufstfeins befindlichen
Weltanfchauungen und -theorien in fich fchliefst.
Es dürfte nur zur Empfehlung des Werkes gereichen,
dafs dabei manche für unfre kampfcs- und fiegesfrohen
Apologeten wenig anfprechenden Refultate zu Tage
treten.

Schliefslich verweifen wir den Theologen noch ganz
befonders auf die in den letzten Briefen befindliche Erörterung
über Willensfreiheit und Determinismus, die
diefe alte Streitfrage zwar auch nicht endgültig löft, wie
fie den Anfpruch erhebt, wohl aber aus einem wefent-
lich neuen Gcfichtspunkte betrachten lehrt, fovvie auf
die Auslaffungen über die Erkennbarkeit Gottes, die
recht deutlich die rcaliftifche und allen fpeculativen
Luftgebildcn abgeneigte Balis und Richtung des Ganzen
verrathen.

Saufcdlitz b. Bitterfeld. Th. Weber.

VTcucfte Literatur.

Karch, G., Die mofaifche Stiftshütte als Abbild des Himmels
in den acht Seligpreifungen nach den vier Gefetzen d.
Sabbath- u. Jubeljahres dargelegt. 3. TM. Würzburg,
(Bucher). (XIX, 296 S. gr. 8.) 3. —

Barth, J., Beiträge zur Erklärung d. Buches lob. Leipzig,
Hinrichs. (27 S. gr. 4.) 2. —

Fürft, J., Hebräifches u. chaldäifches Handwörterbuch üb.
das A. T. 3. Aufl. v. V. Ryffel. 2 Bde. Leipzig, B. Tauchnitz
. (XLVIII, 806 u. 667 S. Lex.-8.) I3. 50.

Giefebrecht, F., Die hebraeifche Praepofition Lamed. Halle
Lippert'fche Buchh. (112 S. gr. 8.) 4. _

Sammter, A., Talmud Babylonicum. Tractat. T'aba Mezia.
Mit deutfeher Ueberfetzg. u. Erklärg. 1. Lfg. Berlin, Ben-
zian. (VII, 12 S. Fol.)

Subfcr.-Pr. pro cplt. 30. —; Ladenpr. 45. —