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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

932–935

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Juntunen, Sammeli

Titel/Untertitel:

Der Begriff des Nichts bei Luther in den Jahren von 1510 bis 1523.

Verlag:

Helsinki: Luther-Agricola-Gesellschaft 1996. 449 S. = Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft, 36. ISBN 951-9047-40-9.

Rezensent:

Hubertus Blaumeiser

Die bei Tuomo Mannermaa an der Universität Helsinki vorgelegte Dissertation zählt zu einem von der Akademie Finnlands finanzierten Forschungsprojekt, das grundlegende theologische Fragen der Lutherischen Reformation neu erwägen und sie auf ihren Zusammenhang mit der vorausgehenden Tradition hin befragen möchte.

Gegenstand der Studie sind die bisher noch nicht eigenständig untersuchten Begriffe nihil und annihilatio (auch: redactio ad nihilum) beim jungen Luther (1510-1523), denen der Autor zu Recht eine wichtige Rolle beimißt. Für die Untersuchung zieht er insbesondere Luthers Erste Psalmenvorlesung, die Römerbriefvorlesung, die Heidelberger Disputation, den Zweiten Psalmenkommentar und die Magnificatauslegung heran. Daneben greift er u. a. auf die frühen Randbemerkungen Luthers und einige Predigten zurück. Methodisch geht der Vf., im Anschluß an seine Hauptquellen, in drei Zeitperioden vor (1510-1516; 1517-1518; 1519-1523; entspricht: Kapitel 3-5), so daß ein perspektivischer Blick auf die Entwicklung und die (relativ geringfügigen) Akzentverschiebungen in der Verwendung der Begriffe "Nichts" bzw. "Vernichtung" möglich wird. Innerhalb der einzelnen Kapitel ist die Arbeit systematisch angelegt, insofern als jede Gebrauchsweise des nihil in einem eigenen Unterkapitel zur Sprache kommt.

Der Untersuchung der Luthertexte wird als Hintergrund ein aufschlußreicher Überblick über "Das Nichts in der Geistesgeschichte vor Luther" (Kapitel 2; 38-147) vorangestellt, bei dem sowohl die Philosophie als auch die Theologie und die Mystik zu Wort kommen. Dabei geht es nicht darum, gewisse im Denken des Reformators wirksame Einflüsse aufzuweisen, sondern "Vergleichspunkte sichtbar zu machen, die Luthers Auffassung möglichst plastisch hervortreten lassen" (404; vgl. 36, 38).

Von den ersten Seiten an macht J. kein Hehl daraus, daß seine Untersuchung in einem präzisen Kontext steht. Zwei Deutungspositionen, die überhaupt "für die gegenwärtige Lage der Luther-Forschung besonders kennzeichnend sind" (11), schlagen auch in den bisherigen Stellungnahmen zum Thema des "Nichts" bei Luther zu Buche. Gemeinsam mit der neueren finnischen Lutherforschung nimmt der Autor kritisch von der weitverbreiteten "relational-personalen" Luther-Deutung Abstand und tritt statt dessen für das von Mannermaa geprägte "real-ontische" Verständnis der Theologie des Reformators ein.

Als "relational-personale" Stellungnahmen zum Thema "Nichts" betrachtet der Vf. in seinem Forschungsüberblick (vgl. Kapitel 1; 11-37) neben G. Ebeling und R. Malter insbesondere W. Joest (Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967), mit dem er sich auch abschließend in einem Anhang zum Substanzbegriff bei Luther auseinandersetzt (416-426). Allen drei Autoren zufolge zielen das Nichtssein bzw. die Vernichtung des Menschen auf die radikale Externität des neuen Lebens in der Gnade ab. Gilt für Ebeling im Namen der grundlegenden coram-Situation des Menschen: "Nach Luther hat der Mensch keine Substanz, sondern sein Sein wird von den Relationen bestimmt, in denen er von Urteilen getroffen wird" (16), so sind die redactio ad nihilum und die creatio ex nihilo des Christen nach Joest "damit verbunden, daß Gott das einzige Subjekt des Geschehens im geistlichen Leben des Christen ist" (21). R. Malter deutet das "Zu-nichts-werden" des Menschen gar als "Ichabbruch", weswegen er sogar den Begriff "Person" vermeiden möchte, weil er zu einem "substantialistischen Mißverständnis" führe (24).

Im Anschluß an Mannermaa will J. demgegenüber das Geschehen der Rechtfertigung als "neue Seinswirklichkeit" zur Geltung bringen, die sich nicht nur auf eine neue Extern-Relation zu Gott oder eine neue Willensgemeinschaft beschränkt, sondern participatio an Christus und durch ihn unio mit Gott bedeutet, die derart real ist, "daß der Mensch verändert und ’vergottet’ wird" (27). Entscheidend ist, daß sich die Gnade ­ bei aller Herkunft von Gott her ­ als "innere seinshafte Wirklichkeit" (414) im Menschen niederschlägt.

Wie aber ist dann jenes Zunichtewerden des Menschen in der Rechtfertigung zu verstehen, das zwar nicht allenthalben wiederkehrt, aber bei Luther doch hinreichend belegt ist und der relational-personalen Deutung als gewichtiges Argument für die radikale Externität des Lebens in der Gnade dient? Mit dieser Frage wendet sich J. in gut 250 Seiten Textarbeit den Schriften des Reformators zu. "Leicht systematisiert", faßt er die Ergebnisse in vier Punkten zusammen (vgl. 404-415):

Erstens ist der Begriff des Nichts bei Luther in Sinn des nihil ex se "ein Ausdruck für die völlige ontologische Abhängigkeit des Menschen (und der ganzen Welt) von Gott" (405), sowohl auf der Ebene der Schöpfung (creatio continua) als auch der Rechtfertigung ("Teilhabe an Gott durch den im Glauben gegenwärtigen Christus" ­ 406). Lebensmäßig verwirklicht wird dies in der tiefen Anfechtung bzw. der annihilatio (407-408). Das bedeutet jedoch nicht, "daß der Mensch in der unio seine geschaffene Substanz verlieren würde" (406).

Zweitens ist der Mensch nach Luther insofern "nichts", als er Sünder ist und insbesondere "den wahren Grund der geistlichen Seinswirklichkeit (d.h. Gott in Christus) durch falsche Gründe (das geschaffene Gut, den Menschen selbst) ersetzt" (409). Erst wo er von Gott "ins Nichts gebracht" wird (redactio ad nihilum), wird er sich der sowohl ontologischen als auch geistlichen Nichtigkeit seines Zustands als Sünder bewußt. Auch hier handelt es sich nicht um ein völliges Nichtssein: Trotz der Sünde kommt dem Menschen das esse naturae zu, "aber im Hinblick auf das esse gratiae, das vor Gott gilt, ist er Nichts" (409).

Drittens betrifft das "Nichts" die an der Selbstliebe orientierte, menschliche Urteilsweise: was immer uns in der Gestalt der Armut und Bedürftigkeit begegnet und woraus wir darum keinen Nutzen ziehen können (sowohl die Mitmenschen als auch Gott), gilt uns als Nichts. Erst wo diese egoistische Liebe zerstört wird, die den "normalen" Umgang des Menschen mit der Welt bestimmt, treten wir in die Wirklichkeit und Urteilsweise des Glaubens ein. Von neuem geht es nicht um eine Totalannihilation, sondern darum, "daß die egoistische Liebe zu sich selbst stirbt und er (der Mensch) ’Nichts für sich selbst’ (sibi nihil) wird" (411).

Viertens qualifiziert der Begriff der annihilatio die Rechtfertigung als eine "ontologisch tiefgreifende Wandlung (mutatio)" (411), die tiefer als jede akzidentelle Veränderung reicht, weil in ihr "keine positive Kontinuität zwischen dem terminus a quo (das natürliche Sein des Menschen als Sünder) und dem terminus ad quem (dem neuen Sein als Gerechtfertigter in der unio cum Christo") möglich ist (412). Und doch "bewahrt der Mensch in ihr seine geschaffene Substanz, die im Glauben mit der Substanz Christi vereinigt wird" (412).

Zu den Verdiensten der Studie gehört es nicht nur, zu einem interessanten Thema relatives Neuland beschritten und der Forschung gebündelt bedeutsames Textmaterial vorgelegt zu haben, sondern auch, mehr als gewöhnlich, die Zusammenhänge mit der Tradition ins Licht zu rücken. Gegenüber einer extrem relationalen Luther-Deutung wird zu Recht die Dimension der Immanenz der Gnade im Menschen geltend gemacht, wobei sofort klar gestellt wird, daß es sich niemals um "Eigentum", sondern stets um "Teilhabe" handelt. Interessant ist u. a. die Sicht des Fortschritts im Leben des Christen, die sich von daher ergibt: reale Verbesserung, die jedoch stets unter dem Vorzeichen des nihil ex se steht (256-262).

Zweifelhaft ist freilich, ob der systematische Zuschnitt die Textarbeit nicht etwas stark leitet und ob man die beiden Deutungsrichtungen derart gegeneinander ausspielen muß (Joest scheint mir bisweilen überspitzt interpretiert). Denn im Blick auf die Luthertexte bleibt schließlich doch die Frage offen, ob sich Seins- und Beziehungswirklichkeit, wo es um die Rechtfertigung geht, jemals gegeneinander in Position bringen lassen. Betont J. zu Recht, daß Beziehung auch nach Luther Sein schafft, so unterstreicht die relationale Deutung, daß solches "Sein" in kaum vorstellbarer Weise Beziehungswirklichkeit ist, und hat dabei durchaus den Reformator auf ihrer Seite, dem es ja vor allem darum geht, uns all das aus der Hand zu nehmen, was Gott gegenüber zum Vorwand für irgendwelche Ansprüche werden könnte. Die von J. in einer Anmerkung zitierte und an der Trinitätslehre inspirierte Feststellung Mannermaas, relatio und esse seien bei Luther "ineinander liegende Größen" (26 Anm. 64) dürfte hier weiterführen.