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Ausgabe:

Oktober/1997

Spalte:

907–909

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dunn, James D.

Titel/Untertitel:

The Epistles to the Colossians and to Philemon. A Commentary on the Greek Text.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans; Carlisle: The Paternoster Press 1996. XVIII, 388 S. gr.8° = The New international Greek Testament Commentary.

Rezensent:

Eduard Schweizer

J. D. G. Dunn hat uns einen schönen, gut lesbaren, gründlichen Kommentar geschenkt. Durchweg werden frühere Arbeiten genannt, zustimmend oder kritisch, immer fair referiert. In der erschöpfenden Literaturliste (3-18) finden sich Beiträge von mir, an die ich mich selbst nicht mehr erinnere. Die Einleitung zu Kol betont seine "Brückenfunktion" zwischen Paulus und seinen Nachfolgern (19 f.). Mein Vorschlag von 1976 (s. 38, Anm. 47), der Brief könnte zu Lebzeiten des Paulus von einem Schüler (Timotheus?) verfaßt sein, wird als wahrscheinlich eingestuft (37-39, 117).

In der Einleitung zu Phlm wird für diesen Fall Rom als Ort des Absenders Ephesus vorgezogen, weil dann der Brief später in der Entwicklung paulinischer Theologie datierbar ist (307 f.). Wurde auch Kolossä beim Erdbeben von 60/61 n. Chr. zerstört? Tacitus sagt es nicht (23); doch wäre, das bestätigend, auf Euseb, Chronicon 183, 1,21 f. und Münzfunde zu verweisen (E. Sch., EKK XII, 19). Phlm 18 zeigt, daß Onesimus seinem Herrn kaum entflohen ist (wofür schwere Strafe drohte), sondern Paulus als Vermittler infolge einer Verfehlung (V. 11) aufsuchte, weil er um ihn als einen Freund seines Meisters wußte (304-306). Daß die Stellung des Paulus dazu und zur Sklaverei überhaupt nicht einfach in moderne Verhältnisse übertragbar ist, wird mit Recht festgehalten (306 f.). Sach- und Autorenregister samt einem ausführlichen, Apokryphen, Qumranschriften und Hellenistisches einschließenden Stellenindex (351-388) sind sehr hilfreich.

In der Auslegung stimme ich weithin mit D. überein. Freilich gibt es Unterschiede der Gewichtung, z. B. zu 1,24 f. (114-119) oder in der Bewertung der nachneutestamtentlichen Entwicklung der Haustafeln (245 f.), wo die untergeordneten Partner immer weniger als Subjekte ethischen Handelns angesprochen werden und militärische Hierarchie als Bild verwendet wird.

In 1,9 wäre die Rolle des Geistes (der freilich so nur in 1,8 erscheint) mit D. (70 f.) vielleicht doch stärker zu bewerten als bei mir (EKK XII, 38 f.). Gewichtiger wäre eine weitere Diskussion über den Grad des Einflusses jüdischer Weisheitstheologie. So wenig ich die Skepsis G. Fees (s. Literaturverz., 911-913) teile und ihren Einfluß auf den Hymnus 1,15-20 (88 f., 91) wie D. sähe, so sehr zögerte ich, geradezu vom "Wisdom-Christ" (186) und von "Identifikation" beider in 1,15-18.27; 2,2 (139) zu sprechen. Vor allem sähe ich die Distanz des Vf.s zum ursprünglichen Hymnus in 1,21-23 (105-112, vgl. 122) schärfer. 1,20 (102-104) spricht eben doch von Versöhnung des Irdisches und Himmlisches einschließenden Alls. Auf diese Stelle ist durch Jahrhunderte hindurch die Lehre von der Allversöhnung aufgebaut worden (wenn ich meinen Kommentar nochmals schreiben könnte, würde ich diese Wirkungsgeschichte in die Auslegung von 1,20 einbauen, nicht erst am Schluß referieren!). Erst recht steht das Revelationssschema von 1,26 f. mit seiner Betonung der Öffnung zur Völkerwelt (125) trotz Eph 3,4-6 (121 f.) doch in einer völlig anderen Gedankenwelt als 1,15-20.

Damit kommen wir zum einzigen "bone of contention", dem Knochen, um den sich die Hunde raufen: den Problemen in Kolossä (22-35, 146-151, 171-198). D. denkt an ein reines (höchstens apokalyptisch oder mystisch beeinflußtes, 180, 184) Judentum im Hintergrund, wobei die Charakterisierung des Gegners in 2,18 f. nicht einschließen muß, daß das von ihm (einem einzelnen Christen oder Juden?) Gesagte auch für die von ihm beeindruckten Kolosser gilt (178, 185, Anm. 35); aber kann man das so trennen? Sicher zeigt 2,16 (Regeln für Speise, Trank, Festtag, Neumond, Sabbat) den jüdischen Charakter, wie die reichlichen Parallelen auf S. 171-175 (s. u. zu 192) zeigen. Allerdings wird Beschneidung nicht genannt! Aber könnte Paulus (etwa zur Zeit von Röm 10,3-8) das Gesetz nur als "Schatten des Kommenden" eschatologisch (176) im Sinn von Hebr 10,1 begrenzen (2,17)? "Anbetung der Engel" (2,18) wird als gen.subj. verstanden, was ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen ist (z. B. 1Clem 62,1). Aber neben der Warnung vor "Anbetung nach eigenem Gutdünken" in 2,22 (D. interpretiert 195: Wille, an dieser Anbetung der Engel teilzunehmen) ist Engelanbetung der Kolosser weit näherliegend. Sachlich wären anbetende Engel und Teilhabe der Glaubenden daran besonders in Qumran belegt (180-182 ­ wäre auch 1Kor 13,1 beizufügen?). So könnte man auch das "Eintreten" in ein himmlisches Heiligtum, parallel zu dem ins gelobte Land (Jos 19,49.51, Kol 1,12) erklären (4Q405, 183).

Im Text ist der Ort freilich nicht genannt, so daß man darin irgendeine Einweihung oder ein "Eindringen" in eine Gedankenwelt (2Makk. 2,30) sehen kann. An Mysterien ist nicht zu denken (182 f.); den neuesten Versuch von C. F. Arnold, The Colossian Syncretism (WUNT II 77, 1995 ­ s. Rezension oben, 902-904), hat M. Rothkegel in einer gründlichen Hausarbeit bei Prof. G. Sellin, Hamburg, ausführlich abgewiesen. Zur Abstinenz von "Anfassen, Kosten, Berühren" (2,21) paßt Arist 142 (2. Jh. v. Chr.), wonach Israel vor dem verunreinigenden Kontakt mit Heiden durch Vorschriften über "Speisen, Getränke und Berührungen" geschützt ist (192). Wie in Mk 7,7 wird in 2,22 Jes 29,13 aufgenommen (ebd.). Eine Verbindung mit dieser Jesustradition ist sicher möglich; nur geht es bei Jesus um menschliche Zusätze. Von Sabbat- und Nahrungsregeln könnte Paulus schon sagen, daß sie noch nicht das "Reich Gottes" sind (Röm 14,17), aber könnte er sie als "Menschengebote und -lehren" bezeichnen? "Befriedigung des Fleisches" (2,23) könnte im Sinn von Phil 3,3 f. als Pochen auf naturhafte Zugehörigkeit zu Israel (197 als Möglichkeit), aber auch sehr anders verstanden werden. Das alles ist möglich. D. führt (neben Röm 14,3-6.17.21) beeindruckende jüdische Parallelen an, und diese Komponente ist wohl noch stärker zu betonen als in meinem Kommentar.

Dennoch fällt es mir schwer, dabei nicht an ein zum mindesten stark synkretistisches Judentum zu denken. Pythagoräisch-orphische Lehren sind in Alexandria schon bei Aristobul (2. Jh. v. Chr.) positiv aufgenommen (M. Hengel, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, 1969, 449). Bei den Essenern ist "der Einfluß hellenistischer, synkretistischer Vorstellungen unverkennbar" (ebd. 458). Josephus sieht in ihnen jüdische "Pythagoräer" (ebd. 448, 452), und selbst die Gnosis (100 f.) wurzelt eindeutig in Auslegungen von Gen 1-6.

Bei der Einführung des Themas der Bedrohung durch eine Irrlehre nennt Kol 2,8 diese zusammenfassend eine "Philosophie... gemäß den Elementen des Kosmos", und 2,20 erinnert die Leser daran, daß sie "den Elementen des Kosmos abgestorben sind" und darum nicht mehr "in der Welt" leben. Außerhalb des NT sind damit ausnahmslos (D. Rusam, ZNW 83, 1992, 119-125) Erde, Wasser, Feuer, Luft so genannt.

Nun spricht Kol 1,20 schon von einer Versöhnung "aller Dinge", des Alls und braucht dafür den Ausdruck "Frieden schaffen", der sonst nur Spr 10,10 vorkommt und adjektivisch in Mt 5,9 und Philo, Spec.Leg. 2, 192, wonach Gott im Krieg der sich bekämpfenden "Teile des Alls" jeweils am Neujahr Frieden schafft! Ebenso lehrt (neben vielen anderen: EKK XII, 102, auch Aristoteles) Empedokles (der eine große Rolle im 1./2. Jh. n. Chr. gespielt haben muß, da Plutarch ihm zehn [verlorene] Bücher gewidmet hat), daß die Glieder des Alls in ständigem Streit miteinander leben. Er fügt aber hinzu, daß sie die Seelen der Bösen (beim Abstieg) mit unzerreißbaren Ketten fesseln und sie wieder "für 3000 Perioden" unterjochen (zitiert um 200 von Hippolyt).

Alexander Polyhistor (1. Jh. v. Chr.), der jüdische Quellen exzerpiert und von Josephus (Ant. 1, 240 f.) benützt wird (H. Conzelmann, Heiden ­ Juden ­ Christen, BHTh 62, 1981, 69 f.), berichtet von den "Pythagoräern" (da viel Mittelplatonisches mitspielt, hätte ich diese überall in "..." setzen sollen), nach ihnen ließen die "vier Elemente" die Seelen, die sich nicht durch Gebet, sexuelle und nahrungsbetreffende Enthaltsamkeit gereinigt hätten, nicht zum ("unsterblichen und göttlichen") "höchsten Aether" aufsteigen.

Plutarch schildert das ausführlich und spricht auch von den guten Seelen als "daimones", die als Nothelfer der Menschen fungieren (sämtliche Texte englisch: E. Sch., JBL 107, 1988, 456-464). Da auch Alexander abgestufte Verehrung von Göttern und "Heroen" bei den "Pythagoräern" erwähnt und Philo dreimal die "daimones" mit den biblischen Engeln identifiziert, wäre eine Verehrung solcher "Engel" (gen.obi.) so gut möglich wie Heiligenverehrung bei uns.

Die entscheidende Frage ist, ob Kol 2,8.20 und all die erwähnten "Menschengebote" möglich sind ohne diese vom 1. Jh. v. Chr. bis ins 2. n. Chr. weit verbreiteten hellenistischen Vorstellungen im Hintergrund. D. bestreitet den Machtcharakter der "Elemente" nicht (verweist sogar auf 2,15!), denkt aber an so etwas wie Naturgesetze und Ordnungsregeln für den Kosmos und das Leben in ihm (189 f.) Aber genügt das? Auch D. weiß um diese Schwierigkeit (184, Anm. 35). Der schwache Punkt in meiner Sicht ist Gal 4, wo die Versklavung unter die "Elemente des Kosmos" nicht nur von den Heidenchristen (V. 9) ausgesagt ist, sondern in V. 3 auch von "uns" (denkt Paulus hier an die Mitabsender von 1,2 ­ z. B. an Timotheus, der erst von Paulus beschnitten wurde [Apg 16,3]?). Könnte Paulus, wie er die früheren Heiden in die 4,3 genannte und in 3,23-25 beschriebene Versklavung unter das Gesetz einschließt, umgekehrt in 4,3 auch jene Mächte des Heidentums in die im Gesetz wirkende Autorität einschließen?

Die Diskussion spitzt sich also auf die Frage zu, ob Paulus gegen den normalen Sprachgebrauch "Elemente des Kosmos" in einem weiten Sinn als (dämonisierte oder gar vergötterte, 149f.) Komponenten der Natur verstanden hat, denen wir ausgeliefert sind (aber nützten da asketische Praktiken?), und der Verfasser des Kol das von ihm übernommen hat, oder ob damals geläufige hellenistische Vorstellungen von der Himmelfahrt der Seele und ursprünglich "pythagoräische" "Vorschriften" und "Gebote" (das Wort "Gesetz" steht nie im Kol) mit jüdischen Speise- und Festtagsgeboten verbunden waren (vgl. 32, Anm. 36). Vielleicht hilft uns eine genaue Analyse aller Stellen für "Weltelemente" einmal weiter. Jedenfalls kann ich abschließend nur nochmals feststellen, daß uns hier ein schöner, gut lesbarer, gründlicher und daher auch anregender Kommentar geschenkt worden ist.