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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

560–562

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Cornehl, Peter

Titel/Untertitel:

Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit. Bd. 1: Theologischer Rahmen und biblische Grundlagen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 344 S. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-17-019697-1.

Rezensent:

Peter Wick

Peter Cornehl hat sein großes Werk zum Evangelischen Gottesdienst auf drei Bände angelegt, die jeweils in mehrere Abschnitte gegliedert sind. Davon ist 2006 der erste Band zum theologischen Rahmen und zu den biblischen Grundlagen erschienen, der in einen Abschnitt I »Gottesdienst als Ort der Begegnung mit Gott. Der theologische Ansatz« und in einen Abschnitt II »Die biblischen Grundlagen des christlichen Gottesdienstes« aufgeteilt ist. Im zweiten Band will C. sich der »Liturgie und Predigt in der modernen Welt« auf Grund der reformatorischen Entscheidungen und unter Beachtung traditionsgeschichtlicher Perspektiven zuwenden. Der dritte Band soll »die Gestalt des Gottesdienstes« zum Ge­genstand seiner Analyse haben. Die Leitidee C.s ist eine »integrative Gottesdienstpraxis«. Allerdings sind die Teilbände nicht kongruent mit den Hauptteilen dieses Werkes. Die beiden Abschnitte des ersten Bandes werden im Inhaltsverzeichnis nicht unter dem Titel des Teilbandes zusammengefasst, sondern unter dem Titel des ersten Hauptteils gestellt: »Das Wesen des Gottesdienstes«, der im zweiten Band fortgesetzt wird.
In der Einleitung plädiert C. für die Einheit von Liturgie und Verkündigung und in diesem Zusammenhang für eine Aufwertung der Liturgiewissenschaft. Nach den einführenden Kapiteln 1–3 bietet C. in Kapitel 4 eine Übersicht zum Wesen, zur Wirklichkeit und zu den Funktionen des Gottesdienstes. C. gibt zahlreiche Definitionen von Gottesdienst: »Gottesdienst ist Ort der Begegnung mit Gott«. Er ist »die Feier der Gegenwart Gottes und des wahrhaft gelingenden Lebens«. »Der Kult findet seine Erfüllung im Fest« (52). »Gottesdienst ist die festliche Feier des Lebens«, welche auf den Alltag bezogen ist (53). C. definiert Kult als »gemeinschaftliche, geordnete und wiederkehrende Begegnung mit Gott«, dessen einziges Ziel die »Begegnung mit Gott, das Sich-Öffnen für das Unbedingte« ist (66). C. zeigt, wie sehr er mit seinem Gottesdienstverständnis lutherischer Tradition verpflichtet ist, wenn er schreibt: »Der Kult ist Zeichen einer heillosen Welt, die auf Erlösung und Versöhnung angewiesen ist.« »Die Ursituation des Kultus ist die Erfahrung der Übermacht der Negativität und das Wunder ihrer Aufhebung« (67).
C. thematisiert in diesem Kapitel zahlreiche für den Gottesdienst relevante Aspekte, die er nicht miteinander systematisieren will, sondern offener ineinander integriert. Unter »kultischer To­po­graphie: Gottesdienst und Lebenswelt« subsumiert er Subjekte, die am Kult beteiligt sind, Lebensbereiche, auf die er bezogen ist, An­lässe und Themen, aus denen gottesdienstliches Feiern er­wächst, Orte und Räume gottesdienstlichen Handelns und deren Zyk­len und Zeiten. Die Gestalt der Gottesdienste entfaltet er anhand von deren Formen, die er unter den Stichworten Sprechakte, Gesten, Grundvorgänge, Strukturen, Stationen, Wege, Ordnung, Freiheit, Einheit, Rollen, Repräsentation und Beteiligung einführt. Er be­stimmt vier Funktionen des Gottesdienstes. »Zwischen den vier Funktionen Orientierung, Expression, Affirmation und Integration besteht ein systematischer Zusammenhang. Sie repräsentieren vier grundlegende Leistungen des Kults und vier Dimensionen der Sprache: die kognitive und normative Funktion der Weltdeutung, die expressive Funktion des subjektiven Ausdrucks, die affirmative Funktion der Vergewisserung des geschenkten Heils … sowie die sozialintegrative Funktion der symbolischen Manifestation und der eschatologischen Antizipation von Einheit« (72).
Bis und mit S. 73 hat C. einen tiefen Einblick in sein integratives Gottesdienstverständnis gegeben und das Anliegen seines Werkes verdeutlicht. C. will Gottesdienst nicht auf einen Begriff, eine Definition oder ein begrenztes Handlungsfeld festlegen. Die Begriffe Gottesdienst, Kult und Feier gehen ineinander über und sind austauschbar. Die vielen Definitionen verhindern die eine Definition. Die zahlreichen Aspekte wollen den Gottesdienst ebenfalls nicht festlegen, sondern ermutigen dazu, die Komplexität gottesdienstlichen Handelns zu beachten, und bieten vielfältigen Stoff, um zu einer reichen und reflektierten Praxis anzuregen.
Der Preis, den C. für sein weites, integratives Vorgehen bezahlt, ist allerdings hoch. Letztlich verzichtet er auf präzise Konturen des Gottesdienstes. Mit den von ihm genannten Kategorien lässt sich der evangelische Gottesdienst nicht deutlich genug von anderen Lebensvollzügen unterscheiden. Viele der genannten Stichworte und auch Kombinationen von ihnen sind außerhalb des evangelischen Gottesdienstes ebenfalls anzutreffen, zum Teil ähnlich und zum Teil ganz anders gefüllt, nicht nur in katholischen und freikirchlichen Gottesdiensten, sondern zum Beispiel im Vereinsleben oder in politischen und militärischen Zusammenhängen oder in anderen Religionen. Weshalb soll man mit diesen Kategorien verstehen, weshalb der evangelische Gottesdienst lutherisch-unierter Prägung, wie er sich seit den Liturgiebemühungen des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. in Deutschland durchgesetzt hat, sich von vielen anderen Gottesdiensten von Kirchen, die in der Tradition der Reformation stehen, unterscheidet? C. weiß um die Ge­fahr, dass Gottesdienst zum Götzendienst werden kann (66). Da er aber mit seinen Definitionen und Kriterien keine Grenzen setzen will, bleibt es unklar, wie man mit seinem Ansatz in der konkreten Situation den Götzendienst erkennen und demaskieren könnte. Das Einzige, was für C. unbedingt aus dem Gottesdienst ausgeschlossen bleiben muss, ist der Ausschluss (Exkommunikation als Perversion, 72).
C. arbeitet den biblischen Bezug seines Gottesdienstverständnisses umfassend auf. Der Großteil des vorliegenden Bandes besteht­ aus einer großen, kritischen Darstellung der alt- und neutestamentlichen Gottesdienstforschung (»Die biblischen Grundlagen des christlichen Gottesdienstes«, 79–312), denn die »Grundlage für die Erneuerung des Gottesdienstes« ist die »Besinnung auf seine biblische Kontur« (74). C. leistet hier Beachtliches und Notwendiges. Er geht kompetent mit den zahlreichen Arbeiten zu diesem Thema um und bietet eine eindrückliche Übersicht über die gottesdienstliche Frömmigkeit in biblischer Zeit, und zwar sowohl in ihrer historischen Entwicklung als auch in ihrer Vielfältigkeit. Allerdings trägt er sein integratives Gottesdienstverständnis im­mer wieder in die Forschungsergebnisse mit ein.
Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit sind im Alten und im Neuen Testament durch starke Grenzziehungen voneinander unterschieden. Ein Spezifikum des alttestamentlichen Kults ist, dass er im Vergleich zu anderen Kulten auch in sich durch markante Grenzen ein unverwechselbares Profil trägt. Kein anderer Kult der Antike hat zugleich den Kultort, das Kultpersonal und den Zugang zum Heiligtum dermaßen beschränkt. Eine Folge davon ist die Entstehung der nichtkultischen Synagoge. C. verwischt solche Unterschiede. Wenn er davon spricht, dass der »Schriftbezug … zum Kern eines spezifischen Kults« wird und damit zur Synagoge überleitet (97 f.), suggeriert er eine Verknüpfung von Kult und Synagoge, die gerade nicht existiert hat. Sein Modell des Synagogengottesdienstes als Wort- und Gebetsgottesdienst (104) passt gut zu einem evangelischen Gottesdienstverständnis, aber wird durch die Quellen, in denen bis zu und mit der Zeit Jesu und des Urchristentums jeder Hinweis auf gemeinsames Beten und liturgische Elemente fehlt, nicht gedeckt. Bei der präzisen Entfaltung der Sinnlichkeit des gottesdienstlichen Geschehens (124 f.) fehlt wiederum der Hinweis, dass dies nur für den Tempelkult galt.
Viele Arbeiten werden gelobt, ernst genommen und dann oft dort, wo sie unterscheidbare Konturen gottesdienstlicher Frömmigkeit herausarbeiten, getadelt, wie z. B. Albertz, der die Jahres­fes­te als Veranstaltungen des nationalen Großkults ansieht. C. möchte den Kult entgrenzter auf die Dörfer verteilt sehen (113). Da­mit akzeptiert er die engen Grenzen des alttestamentlichen Kults nicht. Eine Loslösung des Psalters vom Kult wird ebenfalls kritisiert (121 f.). C. beachtet nicht, dass prophetische Kultkritik tatsächlich die Aussetzung des Gottesdienstes forderte, solange, bis das Volk im Alltag zur Toraobservanz als dem wahren Gottesdienst zurück­gekehrt ist (132 f.).
Der urchristliche Gottesdienst wird von C. noch umfassender dargestellt und die Forschung breit wiedergegeben und diskutiert. Besonders viel Raum nimmt die Darstellung des Weges Jesu und der neutestamentlichen Christologie ein. Alles, was Jesus Christus betrifft, scheint für C. gottesdienstliche Relevanz zu haben. Irgendein Gleichnis kann zu einer Beschreibung des von Jesus intendierten Gottesdienstes werden (145–147) und jeder Handlung Jesu gottesdienstliche Relevanz zugeschrieben werden. Doch wenn alles zum Gottesdienst wird, dann wird letztlich unklar, was Gottesdienst ist und was nicht.
Die Präzision der neutestamentlichen Sprache wird aufgelöst: Die Mahlgemeinschaft Jesu mit den Sündern und Zöllnern wird für C. zur »Mahlfeier« (211), bei der für C. gegen den neutestamentlichen Kontext wahrscheinlich das Vaterunser gebetet worden sei (212). C. beachtet nicht, dass für die Versammlungen der Gemeinden nie gottesdienstliches Vokabular wie Tempel, Opfer oder Kult verwendet wird, für den Weg Jesu Christi und die Nachfolge Chris­ti aber sehr wohl (Röm 12,1; 1Kor 5,7; 6,19). Denn letztlich ist für das Neue Testament nur der leibliche Lebensvollzug Gottesdienst, der mit dem Tempelgottesdienst verglichen werden kann, aber nie die Gemeindeversammlungen.
C. setzt voraus, dass die Leser und Leserinnen sein Bild von evangelischem Gottesdienst grundsätzlich teilen. Wer das tut, erhält eine große Übersicht und zahlreiche Anregungen, den Reichtum der eigenen Tradition auf dem Hintergrund der Bibel zu entdecken. Da C. aber die Unterscheidungskraft und die begriffliche Präzision der biblischen Zeugnisse auflöst, wird auch in ökumenischer Perspektive nicht klar, weshalb sich sein Gottesdienstverständnis von vielen anderen unterscheidet, was dessen un­verwechselbares Profil, seine Stärken und Schwächen sind. Durch seinen integrativen Ansatz wird die Vielfalt der biblischen gottesdienstlichen Frömmigkeit in eine die Konturen auflösende Einheit integriert.