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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1060 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rudolph, Enno [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mythos zwischen Philosophie und Theologie.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. V, 235 S. 8°. Kart. DM 45,­. ISBN 3-534-12441-3.

Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Im Rückblick auf "Poetik und Hermeneutik" schreibt der Anfang 1997 verstorbene Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauss: "Wenn es der Gruppe in den sechziger und siebziger Jahren noch vor allem darum gehen mußte, eine aus der deutschen Geisteswissenschaft hervorgegangene hermeneutische Position im Kontext der neuen humanwissenschaftlichen Fragestellungen zu behaupten, die sich in Frankreich, Amerika und der Sowjetunion zu Wort meldeten, so ging es seither mehr darum, hermeneutische und poststrukturalistische Positionen der Humanwissenschaften zu vermitteln". "Besonders Dekonstruktion und Intertextualität, aber auch die Theorie sprachlichen Handelns und der Pragmasemiotik, und nicht zuletzt neue Ansätze einer historischen und systematischen Anthropologie wurden zum Zentrum neuer Debatten".(1) Vor dem Hintergrund jener Symposien, die auch der Mythenrezeption gewidmet waren(2), läßt sich der von Enno Rudolph herausgegebene Sammelband "Mythos zwischen Philosophie und Theologie" als unzeitgemäße Betrachtung charakterisieren. War der Mythos je etwas anderes als ein konstruierter "Späthorizont" ­ so müßte man mit Hans Blumenberg fragen, der dort mitdiskutierte und auf dessen "Arbeit am Mythos"(3) sich das Projekt denn auch durchaus zu Unrecht beruft.

Denn, so der Stand der Forschung(4): In einem Mythos kann alles vorkommen; Mythen sind Wissenskompendien. Wolf-Daniel Hartwich ist in seiner faszinierenden Materialsammlung "Herakles und Jesus Christus als Märtyrer und Imperatoren", die den Band eröffnet, aber anscheinend auf der Spur bestimmter "Gründermythen Roms und seiner Feinde". Sucht man hier jedoch vergebens nach dem Fokus der einzelnen "Analogien" und "Entsprechungen", so rekonstruiert Joachim von Soosten ausgehend von Röm 5 eine zwar dauerhafte, aber auch nur scheinbar bestimmte "Konfiguration von Mythologie und Christologie", in der die christlich erfahrene Geschichte auf Geschichten angewiesen bleibt. Und Hartwig von Schubert korreliert in therapeutischer Absicht "Traum, Metapher und Mythos am Beispiel von ’Kain und Abel’" so, daß alte Geschichten gegenwärtige Konflikte als neue Inhalte erschließen.

Mythen können eben alle Formen annehmen, die Wissen speichern. Der Herausgeber beschreibt denn auch in seinem eigenen Beitrag "Platons Weg vom Logos zum Mythos" als ein Hin und Her im gleichbleibenden Modus der "Gleichnisrede", in dem der Mythos ausgerechnet dadurch gekennzeichnet ist, daß er "die Relation der Redeformen" des Logos thematisiert (99, gesp.). In dieser wechselseitigen Unbestimmtheit bleibt auch Christoph Quarch gefangen, der "Platons Konzept des ’diamythologein’" am Verhältnis von "Philosophie und Mythos in Platons ’Phaidon’" erläutert. Die mythische Form schillert, da sie letztlich durch Relationen und nicht durch Bild als Formphänomene gekennzeichnet ist. Die präzise Rekonstruktion von Dominic Kaegi "Ernst Cassirer: Über Mythos und symbolische Form" macht die Diskrepanz zwischen dieser kritischen Einsicht und einer unkritischen "Phänomenologie des mythischen Denkens" deutlich, die der deutschen Sondertradition eigentümlich bleibt.

Denn Mythen kamen überall vor, wo Wissen überliefert wurde. Die griechischen Philosophen rekonstruieren unter dieser Formel als Hintergrund des Übergangs zur Schriftgesellschaft (den gleichzeitig in Israel die Propheten thematisieren) die mündliche, traditionale Überlieferungskultur im ganzen. Wenn Jörg Dierken "Die Logik der Entmythologisierung" rekonstruiert ("Rudolf Bultmanns existentiale Interpretation als rationale Grundlegung mythischen Redens"), bleibt er ganz im Banne dieser verdinglichenden Rede, die schon Hans Jonas einst kritisierte. Die gemeinsame Struktur verbindet über das Johannesevangelium und "Sein und Zeit" auch Bultmann und seine Interpreten mit dem gnostischen Mythos ­ eine fortdauernd wirksame Bedeutungsmaschine, die weniger der Entmythologisierung als vielmehr aufklärerischer Bemühung bedarf, um nicht fortwährend neue Ideologien zu produzieren (Hartmut Kuhlmann: "Lustreise zum Sinn. Über einige Aspekte der Mythologie der Aufklärung").

Der Mythos ist also keine Gattung. Auch die Ethnologen haben das Bedürfnis der Selbstvergewisserung angesichts der "ganz anderen" schriftlosen Gesellschaften als Ursprung des Geredes über den Mythos längst erkannt. Es war Indiz eines kulturverändernden Medienwandels, wie er auch jetzt wieder ansteht. In diesem Kontext provoziert die Wiederaufnahme des Themas Mythenrezeption, als ob nichts gewesen wäre, eine erstaunte Rückfrage nach dem institutionellen Sitz im Leben dieses philosophisch-theologischen Diskurses.

Fussnoten:

(1) FR vom 8. 3. 1997, ZB 3.
(2) Terror und Spiel. Probleme d. Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik, 4) hrsg. von Manfred Fuhrmann. ­ München: Fink 1971, Nachdr. 1990.
(3) Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, Nachdr. 1996.
(4) Den Forschungsstand ignoriert das Projekt souverän; vgl. nur Mythos ohne Illusion (fr. 1980), hrsg. von Claude Levi-Strauss u. a., Frankfurt 1984.