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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

547–548

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pinggéra, Karl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Russische Religionsphilosophie und Theologie um 1900.

Verlag:

Marburg: Elwert 2005. VII, 171 S. m. 1 Abb. gr.8° = Marburger theologische Studien, 86. Kart. EUR 29,00. ISBN 3-7708-1273-5.

Rezensent:

Anna Briskina-Müller

Das von K. Pinggéra, Juniorprofessor in Marburg, herausgegebene Buch stellt eine Sammlung von zwölf Vorträgen dar, die im Rahmen einer Ringvorlesung im Sommersemester 2003 an der Universität Marburg gehalten wurden. Der Herausgeber hat den Band mit einer ausführlichen, hilfreichen Einführung versehen. Das im Buchtitel angegebene Sachthema wird von drei Seiten angegangen: Literatur (Tolstoj), religiöse Philosophie außerhalb der Geistlichen Akademien (V. Solov’ev, Fedorov, Berdjaev, Losev, Florenskij und Bulgakov) und Theologie ›innerhalb‹ der Geistlichen Akademien (Svetlov und Tareev).
Der Beitrag von Ludolf Müller »Die Religion Tolstojs und sein Konflikt mit der Russischen Orthodoxen Kirche« (1–9) fällt aus dieser Reihe etwas heraus: Tolstoj stand im offenen Konflikt mit der Kirche und wurde exkommuniziert. Der Vf. sieht die Ursache des Konflikts in der »altkirchlichen und mittelalterlichen Weltanschauung« der russischen Kirche und in der mystischen Frömmigkeit des von der Aufklärung geprägten Tolstoj. Alle anderen in diesem Band behandelten Denker sind praktizierende – wenn auch kritische – Kirchenmitglieder geblieben und haben eher apologetisch gedacht.
Der Beitrag von Wolfgang Dietrich »Vladimir Solov’ev – Weisheit und Offenheit (Sophia und All-Einheit)« (11–28) gibt einen Überblick über das Leben, Werk und die Hauptgedanken des Philosophen. Der Vf. zeigt die bleibende Aktualität Solov’evs. Michael Hagemeister widmet seinen Beitrag (»Selbstgeschaffenes Paradies und Wiederbringung aller. Nikolaj Fedorovs ›Philosophie des ge­meinsamen Werks‹«, 29–37) einem der ungewöhnlichsten russischen Denker, der die Lehre einer rationalen Bekämpfung des Todes entwickelt hat.
Zwei Beiträge sind Pavel Florenskij gewidmet, wobei die Perspektiven sehr verschieden sind. Johannes Schelhas (»Die Welt liebgewinnen. Schöpfung als Brennpunkt der Theologie Pavel A. Florenskijs [1882–1937]«, 39–49) betrachtet Florenskij ausschließlich als Theologen. Sein theologisches Werk habe vor allem der Schöpfung Gottes und deren Verbindung mit der Liturgie gegolten. Maja Soboleva (»Pavel Florenskijs orthodoxe Ästhetik«, 51–63) würdigt den »russischen Leonardo da Vinci« ausdrücklich als einen Naturwissenschaftler und Ästheten. Sein theologisches Werk sei von Ästhetik durchdrungen. Die Vfn. versucht, die Ästhetik und Kulturlehre Florenskijs zu rekonstruieren.
Den im Westen wohl bekanntesten russischen Denker behandelt Wolfgang Dietrich in seinem Beitrag: »Nikolaj Berdjaev – Widerstand und Schöpferische Existenz« (65–78). Er bietet eine biographische Skizze und stellt seine Schriften knapp dar. Holger Kuße beschäftigt sich in seinem Beitrag »Trinitarische Philosophie. Aleksej F. Losevs ›Dialektik des Mythos‹ und seine ›Ergänzung‹« (79–93) mit der von Losev beschriebenen universalen Präsenz des My­thos in allen Kommunikations- und Denkformen. Stefan Reichelt (»Die Kirche des Ostens und des Westens in der russischen religiösen Philosophie«, 95–107) analysiert den Beitrag russischer Laientheologen – Chomjakov, V. Solov’ev und Berdjaev – zur Entwick­lung der Vision einer universalen mystischen Kirche und gibt damit einen Eindruck von dem in der russischen Religionsphilosophie behandelten Problem der christlichen Spaltung. Barbara Hallensleben beschäftigt sich in ihrem Beitrag »Vom griechischen Russentum zur Universalen Kirche: Sergij N. Bulgakov (1871–1944)« (109–120) mit der Biographie, den wichtigsten Lebenserfahrungen und Gedanken des berühmten Exiltheologen. Sie analysiert seine Entwicklung von der Hinwendung zur Römisch-Katholischen Kirche bis zu ihrer scharfen Ablehnung und seine Enttäuschung über die westliche Christenheit insgesamt.
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit Pavel Svetlov. Beide eröffnen neue Perspektiven in der Wertung der orthodoxen akademischen Theologie am Anfang des 20. Jh.s und zerstören gewisse Stereotype, die die theologische Dialogfähigkeit der Orthodoxie betreffen. Karl Christian Felmy (»Das Kreuz in Leben und Werk von Erzpriester Pavel Svetlov«, 121–134) widmet sein Interesse der Kreuzestheologie Svetlovs. Der Vf. beleuchtet die Quellenfrage, die wichtigsten Lebensstationen und Gedanken Svetlovs, der in fruchtbarer Auseinandersetzung mit A. Ritschl gestanden habe. Jennifer Wasmuth (»Die Reich-Gottes-Lehre Pavel Svetlovs (1862–1941). ›Li­berale‹ orthodoxe Theologie im Zeichen der Krise«, 135–151) ist be­strebt, die gängigen Stereotype eines »westlichen Rationalismus« und der »östlichen Glaubenserfahrung« anhand der Theologie Svetlovs zu durchbrechen. Auch hier wird die theologische Verwandtschaft Svetlovs mit A. Ritschl analysiert.
Hermann-Josef Röhrig stellt einen wenig bekannten Theologen vor: »Michael Tareev. Die kenotische Theologie des ›Doctor exinani­tionis‹ im Schnittpunkt östlichen und westlichen Denkens« (153–170). In einer knappen Darstellung folgen die wichtigsten Lebensdaten und ein Überblick über die Werke Tareevs, der im Westen mehr rezipiert worden sei als in der eigenen Kirche.
Die meisten Beiträge sind der Suche nach »Schnittstellen« zwischen dem orthodoxen Osten und dem katholischen oder protes­tantischen Westen gewidmet und mit Verständnis und Sachkenntnis verfasst. Der Band spiegelt zugleich den Forschungsstand im deutschsprachigen Raum gut wider und stellt eine Hilfe für diejenigen dar, die sich über die Thematik einführend informieren möchten. Der Band hat einige formale Mängel: Nicht alle Zitate sind belegt; man begegnet immer wieder Fehlern sowohl in der Übersetzung russischer Zitate als auch in deren kyrillischer Nieder- und lateinischer Umschrift; die Umschrift ist uneinheitlich. Der Band empfiehlt sich einem breiten Leserkreis.