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Ausgabe:

Mai/2008

Spalte:

541–543

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Boss, Marc, Emery, Gilles, et Pierre Gisel [Éds.]

Titel/Untertitel:

Postlibéralisme? La théologie de George Lindbeck et sa réception. Ed. avec la collaboration de N. Giroud, Ch. Indermuhle et L. Kaennel.

Verlag:

Genève: Labor et Fides 2004. 216 S. 8° = Lieux Théologiques, 37. Kart. EUR 25,00. ISBN 2-8309-1107-5.

Rezensent:

Andreas Hunziker

The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age (1984) hat George Lindbeck zu einem der meist diskutierten Theologen Nordamerikas gemacht. Das nur schmale Buch wurde durch seine Rezeption zu einer Art Programmschrift der sog. Yale-Schule. Es wurde zum Aushängeschild des Versuchs, diesseits der modernen Alternative von ›liberaler‹ und ›orthodoxer‹ Theologie den spätmodernen Weg des Postliberalismus zu gehen. 1994 ist die deutsche Übersetzung erschienen (Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter), im Herbst 2002 die französische (La nature des doctrines. Religion et théologie à l’âge du postlibéralisme). Der zu besprechende Band möchte ein erstes französischsprachiges Echo auf die durch Lindbecks Schrift ausgelöste Diskussion sein. Seine Texte sind Resultat einer im Frühjahr 2003 durchgeführten Tagung in Lausanne, für die nicht zufällig sowohl protestantische als auch katholische Fa­kultäten verantwortlich zeichneten.
Eröffnet wird der Band allerdings durch den (ins Französische übersetzten) deutschsprachigen Beitrag von Andreas Eckerstorfer L’église une dans le monde postmoderne. Herméneutique, concepts et perspectives dans l’œuvre de George Lindbeck (11–37). In einer Art Kurzfassung seiner Dissertation (Kirche in der postmodernen Welt. Der Beitrag George Lindbecks zu einer neuen Verhältnisbestimmung, 2001) verortet Eckerstorfer die Grundgedanken von Lindbecks Buch in dessen Leben und Denkentwicklung. Lindbecks kulturell-sprachliches Religionsmodell, der Vergleich der kirchlichen Lehre mit grammatischen Regeln, die Vorstellung von Theologie als in­tratextueller Interpretationspraxis und seine Vision einer nachkonstantinischen, ökumenischen Christenheit werden da­durch als Orientierungsversuch eines lutherischen Theologen mit ungewöhnlich weitem Lebens- und Denkhorizont verständlich. Von ihrer Provokation für die Kirche und die Theologie gerade auch in Europa – wo das kulturgestützte Christentum seine Vormachtstellung verliert, die Bedeutung von Religion aber zumindest nicht abzunehmen scheint – verlieren seine Problemanalysen und Lö­sungsperspektiven dadurch allerdings nichts.
Von Gilles Emery stammen zwei Beiträge. L’intérêt de théologiens catholiques pour la proposition postlibérale de George Lindbeck (39–57) dokumentiert anhand ausgewählter Themenstränge, wie Lindbeck in der intensiven katholischen Diskussion auf dem Hin­tergrund recht großer Zustimmung vor allem in zwei Punkten Widerspruch erwachsen ist: Zum einem wird kritisiert, dass er die kirchlichen Lehrsätze primär als Wahrheitsbehauptungen zweiter Ordnung versteht, welche keine direkten Aussagen über die Wirklichkeit machen; zum andern, dass sein radikaler non-foundation­alism auf einen Relativismus und damit verbunden auf eine Unterbestimmung der apologetischen Aufgabe der Fundamentaltheologie hinauslaufe. Sein zweiter Text, Thomas d’Aquin postlibéral? La lecture de saint Thomas par George Lindbeck (85–111), stellt die Eigen­tümlichkeiten von Lindbecks postliberaler Thomas-Interpretation heraus. Das ist mehr als eine exegetische Nebenfrage, hat Lindbeck sein kulturell-sprachliches Modell doch im ständigen Gespräch mit Thomas und Luther entwickelt.
Auf einige knappe Bemerkungen von Pierre Gisel (Questionnements, 59–68) folgt der erste Beitrag von Marc Boss: Postlibéralisme théologique et communautarisme ethico-politique. La critique de la societé libérale chez George Lindbeck (69–84). Boss stellt darin die Affinität des theologischen Postliberalismus zu Alasdair MacIn­tyres ethisch-politischem Kommunitarismus heraus. Gerade als ›öku­menische Sekte‹ mit einem geteilten Korpus kanonischer Texte könnte die Kirche für eine Gesellschaft, die ihre gemeinsame Sprache verloren hat, einen wichtigen Beitrag leisten. In seinem zweiten Text, Le postlibéralisme: un programme herméneutique (113–138), beschreibt Boss den Postliberalismus als Versuch einer Wiedergewinnung des vormodernen Gebrauchs der Bibel in einer ge­gen­wärtig angemessenen, (die historische Kritik also durchaus ernst nehmenden) nachkritischen Form. Er macht dabei nicht nur auf den durch die postanalytische Philosophie und den Dekonstruktivismus geprägten Kontext von Lindbecks Hermeneutik aufmerksam. Er stellt zudem deutlich heraus, wie diese intratextuelle Hermeneutik den Versuch darstellt, in Anschluss an Karl Barth über dessen offenbarungstheologischen foundation­alism hinauszuführen. Auch François-Xavier Amherdts L’herméneutique de Paul Ricœur en débat avec George Lindbeck et l’école de Yale (139–156) hat die postliberale Hermeneutik Lindbecks und der ›Yale-Schule‹ als Thema. Er weist die Kritik der New Yale-Theologie an Ricœurs biblischer Hermeneutik, sie sei ›revisionistisch‹, zu­rück. Vielmehr gelinge es Ricœur gerade, die falsche Alternative zwischen der postliberalen Hermeneutik auf der einen und der revisionistischen Hermeneutik à la Tracy und Ogden auf der anderen Seite zu unterlaufen. Der katholische Theologe Charles More­rod denkt schließlich über La contribution de George Lindbeck à la méthodologie œcuménique nach und beurteilt diese Methode insgesamt als wichtigen Beitrag für den ökumenischen Dialog.
Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von George Lindbeck selbst: Relations interreligieuses et œcuménisme: Le chapitre 3 de La nature des doctrines revisité (183–207) ist eine Relektüre eines besonders kontroversen Kapitels aus The Nature of Doctrine. Lindbeck unterstreicht nochmals, worum es ihm mit seinem »partikularistischen Universalismus« ging: Keine ausgearbeitete Theologie der Religionen war das Ziel, sondern der Versuch, die Leistungskraft seiner im ökumenischen Kontext entwickelten sprachlich-kulturellen Lehrsatz- und Religionstheorie auch auf dem Gebiet der interreligiösen Beziehungen zu erproben. Seine Ausführungen folgen zuerst weitgehend der Argumentation in The Nature of Doctrine: Sein kulturell-sprachliches Modell sei darum zu favorisieren, weil es zum einen wie das pluralistische Modell differenzsensibel sei, ohne aber die unüberbietbare Gegenwart Gottes in Jesus Chris­tus aufzugeben, und weil es zum andern die problematische Voraussetzung des inklusivistischen Modells nicht teilen müsse, dass die Religionen verschiedene Ausdrucksformen derselben religiösen Grunderfahrung seien. Ausdrücklicher als in The Nature of Doc­trine setzt er sich schließlich mit der Kritik auseinander, dass sein partikularistischer Universalismus in den Isolationismus, Fideis­mus oder gar Imperialismus führe. Auch wenn dabei manches skizzenhaft bleibt, führt Lindbeck hier nochmals eindringlich vor Augen, dass es im gegenwärtigen Diskurs einer Theologie der Religionen eine echte Alternative zum pluralistischen und inklusivistischen Modell geben könnte, die dem gegenwärtigen Glaubensbewusstsein gut anstehen könnte – einem Glaubensbewusstsein jedenfalls, für welches die existenzielle Verpflichtung zu einer konkreten Wahrheit und das Ernstnehmen des spätmodernen Pluralismus sich nicht gegenseitig ausschließen.