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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1052–1054

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wiedemann, Arnd

Titel/Untertitel:

Imperialismus –­ Militarismus –­ Sozialismus. Der deutschschweizerische Protestantismus in seinen Zeitschriften und die großen Fragen der Zeit 1900-1930.

Verlag:

New York-Bern-Frankfurt/M.-Berlin-Wien-Paris: Lang 1995. 562 S. 8° = Geist und Werk der Zeiten, 83. Kart. DM 111,­. ISBN 3-906755-23-1.

Rezensent:

Karl Hammer

Die bei der philosophisch-historischen Fakultät in Zürich eingereichte Dissertation befaßt sich in fünf sehr verschieden langen Kapiteln 1. mit dem deutschschweizer Protestantismus von der Aufklärung bis etwa 1930 auf knapp 50 S., 2. mit den "überregionalen prot. Wochen-, Monatszeitschriften vom 2. Drittel des 19. bis zum frühen 20. Jh.", 3. dem Problem des Imperialismus, 4. dem des Militarismus und 5. der "Sozialen Frage, Sozialismus und Gewalt aus der Sicht der (3) Zeitschriften" auf insgesamt ca. 480 S.

Seinen theologiegeschichtlichen Abriß, in dem auch die deutschen Väter des Schweizer Protestantismus im 19. Jh. Schleiermacher, Hegel, Feuerbach, D. F. Strauß und Ritschl nicht fehlen, faßt W. zusammen: "Die orthodoxe Theologie wird durch ihre Verbindung mit den Ritschlianern zunehmend aufgeschlossener für neue Phänomene der Verkündigung, hält jedoch an der Bekenntnisgrundlage und am Prinzipaldogma der Trinität fest ... Die liberale Theologie ist kein einheitliches Gebilde mehr, in ihr finden sich Strömungen vom klassischen theologischen Liberalismus bis zu einem theozentrischen pietistischen Christentum mit Betonung der Persönlichkeit Jesu, sie vertritt weiterhin Glaubens- und Gewissensfreiheit ..." (46).

Dem "orthodoxen" "Kirchenfreund" und dem liberalen "Protestantenblatt" werden die "Neuen Wege" der Religiös-Sozialen gegenübergestellt in ihren Gründern, Hauptredaktoren und Zielen. Erfreulich ist, daß dabei neben bekannten Namen auch solche auftauchen, die in den bisherigen Darstellungen der neueren Schweizer Kirchengeschichte fehlten, uneinsichtig hingegen, warum von den S. 50 ff. registrierten Zeitschriften der Deutschschweiz nur die genannten drei ausgiebig "ausgeschlachtet" werden, nicht hingegen z. B. das bis 1990 (nicht "bis heute", 52) seit 1844 14tägig erscheinende "Kirchenblatt für die reformierte Schweiz".

Entsprechend schablonenhaft verläuft denn auch die Vorstellung einschlägiger Partien zu den drei gewählten Themen: Imperialismus, Militarismus und Sozialismus auf über 400 Seiten. Auch wenn mich der Vf. zitiert (71), ich habe lange mit mir gerungen, ob ich den aus späteren Nomenklaturen stammenden Begriff des Imperialismus jener Zeit aufprägen darf, der ihr selbst noch fremd war, habe ihn dann aber doch verwendet, nicht ohne ihn den mir für die Zeit 1860-1918 als wichtiger erscheinenden "-ismen" Nationalismus und Kolonialismus an die Seite zu stellen. Diese fehlen in der gewichtigen Abhandlung, jedenfalls im Titel. es werden vielmehr Militarismus, Imperialismus und Sozialismus aus heutiger Sicht parataktisch in der genannten Zeitschriftenliteratur aufgespürt, wobei natürlich, je länger je mehr die hier konsequenteren "Neuen Wege" besser abschneiden als das "positive" und liberale Blatt, dies allerdings erst nach der Zeitenwende 1918. Dem Burenkrieg beispielsweise widmeten die Neuen Wege noch keine Aufmerksamkeit, der Kirchenfreund hingegen ganze 67, das Schweizer. Protestantenblatt 22 Artikel. Ähnlich ist es mit dem Hereroaufstand oder den Armeniergreueln.

Lange vor den marxistischen Anklagen gegen den "Kapitalismus" wendet sich der Hauptredaktor des Kirchenfreunds, Pfr. Orelli, 1902 am Ende des Burenkrieges gegen den "Mammonismus" als einer "rechten Aufmunterung zu rücksichtslosem gewissenlosem Ausbeuten" (79), ­ ein Dauerthema insbesondere reformiert-schweizerischer Theologie seitdem bis heute! Im übrigen stellt gerade die Fülle, in der der Vf. die deutschschweizerischen Auseinandersetzungen um und zwischen Kirche und Politik ausbreitet sowohl eine Fundgrube für alle an den vergangenen Richtungskämpfen besonders der Zwanziger Jahre Interessierten dar, wie sie auch beweist, daß und warum sie zum Hauptthema der Gegenwartskirchen geworden sind. Erfreulich, wie neben den Haptmatadoren Blumhardt, A. Schlatter, E. Thurneysen, K. Barth, H. Kutter, L. Ragaz u. a. auch Hauptpfarrer an den "evangelischen Kathedralen" in Zürich, Bern und Basel ausführlich zu Worte kommen. Schade, daß der 40 Jahre an der Kleinbasler Matthäuskirche im Arbeiterquartier wirkende, nicht nur vor stets voller Kirche predigende, sondern auch christlich-sozial operierende Pfr. Gustav Benz (gest. 1937) fast nur aus der gegenteiligen Optik des religiös-sozialen Leonhard Ragaz zu Wort kommt (344, 440 f., anders 460). Angesichts der positiven Fülle weniger bekannter Namen wäre ein Namensverzeichnis mit Kurzvita am Ende hilfreich gewesen. Es liegt an der spezifisch Schweizerischen Geschichte dieses Jahrhunderts, daß die fleißige, voluminöse Arbeit immer mehr von den doch mehr auswärtigen Themen des Imperialismus und Militarismus zur Sozialen Frage, zu Sozialdemokratie und Sozialismus hindrängt und beim "Problem der Gewalt von Klassenkampf bis zu Revolution und Diktatur" v. a. von 1917/18 endet.