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Ausgabe:

April/2008

Spalte:

442–444

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lehnen, Julia

Titel/Untertitel:

Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 400 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 80. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-17-019322-2.

Rezensent:

Michael Fricke

Interaktionale Bibelauslegung stammt ursprünglich aus der Arbeit mit Bibelgruppen im außerschulischen Bereich. Sie »beruht auf einer Interaktion mit dem Bibeltext, der als ›Gegenüber‹ wahrgenommen wird, und auf der Interaktion der Gruppenmitglieder untereinander. … Ziel ist es, das Wort Gottes als Botschaft menschlicher Autoren durch die sorgfältige Analyse der biblischen Texte ›für die Menschen von heute neu zum Sprechen zu bringen‹.« (15) L. zufolge ist Interaktionale Bibelauslegung ein Sammelbegriff für verschiedene Formen, wie z. B. »ganzheitliche, erfahrungsorientierte Bibelarbeit, Bibliolog und kleine Form des Bibliodramas« (313). Allen sind »Interaktion, Identifikation, Kreativität und Phasen von Distanz und Nähe zum biblischen Text« gemeinsam (ebd.). L. vertritt in ihrer im Jahr 2005 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster angenommenen Dissertation die These, dass es »sinnvoll, möglich und nötig« ist, Interaktionale Bibelauslegung auch »unter den gegenwärtigen Voraussetzungen schulischer Bibeldidaktik durchzuführen« (17).
Im ersten Teil (25–59) stellt L. dazu Ausschnitte aus der aktuellen bibeldidaktischen Diskussion dar. Die einschlägigen theologischen und pädagogischen Argumente für das biblische Lernen kommen zur Sprache, ebenso wie dessen Ziele vor dem Hintergrund der Postmoderne (Pluralismus, Mehrperspektivität, Individualisierung, 38). L. geht besonders auf die Kontroverse um das Verhältnis von Offenbarung und Erfahrung ein. Sie setzt sich kritisch mit der gegen die erfahrungsorientierte Religionspädagogik ge­richteten Position Rusters auseinander. Ruster zufolge seien »Kinder mit der Welt der Bibel zu konfrontieren, ohne deren Aneignungs- und Verstehensbedingungen … vorgängig zu berücksichtigen« (51). Es geht nach Ruster darum, die Fremdheit der Bibel zu respektieren und sie nicht an die Matrix entwicklungspsychologischer Stufenmodelle anzupassen (49 f.). Demgegenüber verteidigt L. die programmatisch nach Schüler-Erfahrungen fragenden Konzeptionen der Korrelation (katholisch) und Elementarisierung (evangelisch) gegen Rusters Kritik. Mit der Performativen Religionspädagogik unterstreicht sie, dass Religionsunterricht »an­satzweise zum Erfahrungsraum« mit der Bibel werden müsse (55). L. bezieht schließlich die vermittelnde Position, »dass die Subjekt­orientierung der Religionspädagogik unaufgebbar ist, wobei je­doch auch die Bibel Subjektstatus hat und als fremde Stimme zu Gehör kommen muss.« (58) Damit ist die Bühne für die Interaktionale Bibelauslegung bereitet.
Diese stellt L. im zweiten Teil (61–153) anhand von acht ihrer Begründer bzw. Vertreter vor: W. Wink (protestantisch), D. Dormeyer (katholisch), T. Schramm, T. Vogt, S. u. H. K. Berg, G. M. Martin (alle protestantisch) und A. Hecht (katholisch). Sie referiert die wichtigsten Inhalte aus den einschlägigen Werken und arbeitet dabei Erkenntnisse ein, die sie aus persönlichen Begegnungen (Teilnahme an Workshops, Interviews, s. Anhang) gewonnen hat, so dass dem Leser ein nachvollziehbares Bild der jeweiligen Person und ihres Ansatzes entsteht. Das Innovativste dieses Abschnittes ist die Darstellung des »Bibliologs« in der Prägung des jüdischen Literaturwissenschaftlers P. Pitzele (USA). Er konzeptualisiert und praktiziert die Begegnung mit dem biblischen Text als »plurales interpretatives Spiel« (140). In der Tradition des Midrasch spricht er vom »schwarzen Feuer«, den Buchstaben der Heiligen Schrift, und dem »weißen Feuer«, den Leerstellen im Text bzw. den Zwischenräumen zwischen den Buchstaben (ebd.). Diese beginnen zu reden, wenn die Gruppe nach den »Sub-texten« und Stimmen sucht, »die auf die unbeantworteten Fragen im Text Antwort geben« (ebd.). Für Pitzele ist Bibliolog heiligende und heilende Teilhabe an der Tradition, lebendige Liturgie im Sinne einer »recreation« und dient der Stärkung des Laienelements (141). Charakteristische Methoden sind die Anrede der Teilnehmer in gewissen Rollen (»Du bist … Wie ist das für dich?«) und das aus dem Psychodrama stammende »echoing« (der Leiter wiederholt Aussagen des Teilnehmers laut und hebt emotionale Gehalte hervor, 150).
Der dritte Teil (155–258) untersucht anhand von Leitfragen – z.B.: Wie entstand Interaktionale Bibelauslegung? Welche Schritte und Methoden sind für sie charakteristisch? Welche Rolle spielen Exegese, welche Kreativität und Körperarbeit? Wie kann man den Text vor Missbrauch schützen? (19 f.) –, was Interaktionale Bibelauslegung – nun personübergreifend – der Sache nach ist. So werden die »hermeneutischen Impulsgeber« (Gadamer, Iser, Ricœur, Mead, Habermas, Eco) sowie psychologische (vor allem Jung) und gruppendynamische Hintergründe (TZI) erläutert, der Begriff der Interaktionalen Bibelauslegung ausdifferenziert und die Methoden der acht bereits vorgestellten Vertreter miteinander verglichen. Dabei ergeben sich naturgemäß Doppelungen zum zweiten Kapitel.
Der vierte Teil endlich widmet sich der Frage nach Interaktionaler Bibelauslegung im Religionsunterricht. Die Bilanz zur »bisherigen Umsetzung« im Religionsunterricht fällt auffallend ›dünn‹ aus (259–263). Warum hat sich Interaktionale Bibelauslegung noch nicht im Religionsunterricht etabliert? Diese zentrale Frage stellt L. nicht. Sie verweist nur darauf, dass existierende Unterrichtsversuche nicht veröffentlicht wurden (309). Um herauszufinden, worin die tieferen Ursachen für diesen Befund liegen könnten, etwa in der nur partiellen Kompatibilität des Ansatzes mit den schulischen Rahmenbedingungen (so Berg) oder in den hohen Anforderungen für Lehrkräfte, müsste man eine gründliche Analyse anstellen, ggf. auch mit Befragungen von Lehrkräften.
In ihrem eigenen Unterrichtsversuch (263–295) zeigt L., wie Interaktionale Bibelauslegung auch im 45-Minuten-Takt des Religionsunterrichts erfolgreich eingesetzt werden kann. Damit nötigt sie die religionspädagogische Zunft, das Urteil Bergs zu überdenken, wonach Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht »unmöglich« durchzuführen sei. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie sich durch die Methode des Bibliologs die Vielfalt des Textsinnes auf kreative Weise in der Lerngruppe entfaltet. Die besondere Lebendigkeit entsteht dadurch, dass sich die Schüler in den jeweiligen Akteur hineinversetzen und seine Gedanken und Gefühle in der ersten Person formulieren (hier: Lk 10,25–37). Auf die Lehrerfrage »Du bist der Verletzte. … Was geht in dir vor?« antworten sie: »Ich warte, ich habe Hoffnung«, »Ich habe schlimme Schmerzen. Ich wünschte tot zu sein.« Oder: »Du bist der Priester … Was geht dir durch den Kopf?« – »Der Verletzte könnte nicht echt sein. Vielleicht ist das eine Falle.«, »Vielleicht hat der Mann eine ansteckende Krankheit. Helfen wäre mir unangenehm.« (269) Die Textzusammenhänge sowie die Entwicklungen und Beziehungen der Akteure werden in den weiteren Stunden durch szenisches Lesen und eine entsprechende Auswertung (271 f.), historisch-kritische Textarbeit (273 f.) sowie ein pantomimisches Spiel zu Schlüsselworten des Textes zum Zwecke seiner Aktualisierung (277 f.) noch weitergehend ergründet. L. reflektiert schließlich den Unterrichtsversuch vor dem Hintergrund ihres entworfenen Frageras­ters zur Interaktionalen Bibelauslegung und der fünf Kriterien »guten Religionsunterrichts« von A. Bucher (u. a. Selbsttätigkeit der Schüler, Lebensrelevanz, Explizieren religiöser Themen).
Insgesamt untermauert und systematisiert die Dissertation die theoretischen Begründungen für Interaktionale Bibelauslegung im Religionsunterricht und leitet auf ermutigende Weise an, sie tatsächlich umzusetzen – ein wichtiger und erfreulicher Impuls für die Religionspädagogik und ein Weg, auf dem Schülerinnen und Schüler ein eigenes und differenziertes Verhältnis zur Bibel – jenseits des beklagten »Traditionsabbruchs« (25) – aufbauen können!