Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2008

Spalte:

377–379

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rake, Mareike

Titel/Untertitel:

»Juda wird aufsteigen!« Untersuchungen zum ersten Kapitel des Richterbuches.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. X, 184 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 367. Lw. EUR 68,00. ISBN 978-3-11-019072-4.

Rezensent:

Walter Groß

In ihrer Göttinger Dissertation nimmt R. sich mit scharfer Beobachtungsgabe und radikaler Literarkritik eines der durch innere Widersprüche verwirrendsten Texte des Alten Testaments an, der an der redaktionsgeschichtlich zurzeit heftig umkämpften Grenze zwischen Josua- und Richterbuch steht und dem von vielen Alttes­tamentlern in manchen Details hohe historische Zeugniskraft zugesprochen wird.
Nach einem sehr informativen, mit Johannes Clericus beginnenden Forschungsbericht (Kapitel 1) wendet R. sich im 2. Kapitel dem erstmals 1927 von Albrecht Alts Schüler H.-G. Feller, dann von Albrecht Alt nur mündlich und seitdem auf Grund der Autorität Alts nahezu einmütig sogenannten »negativen Besitzverzeichnis« Ri 1,21.27–35 zu. Diese Gattungsbezeichnung kritisiert sie mit dem (bezüglich V. 29 kaum einleuchtenden) Argument, 27–29.34–35 haben erzählenden Charakter, nur 30–33 könnten auf Grund ihrer stereotypen Aufzählung einer Liste entstammen. Das ist für sie eine erste Schwächung der weit verbreiteten Überzeugung, das sog. »negative Besitzverzeichnis« sei sehr alt und historisch glaubwürdig.
Den Josuaparallelen Ri 1,21/Jos 15,63; Ri 1,27–28/Jos 17,11–13; Ri 1,29/Jos 16,10 widmet sie einen äußerst detaillierten Vergleich und kommt zu der »kompliziertesten Lösung« (59), dass beide Textreihen mehrfach in beiden Richtungen aneinander angepasst wurden. Schon hier zeigt sich ihr großes Zutrauen in eine kleinräumige Literarkritik. Bezüglich der Divergenz Jos 15,63 (Juda konnte die Jebusiter nicht aus Jerusalem vertreiben) versus Ri 1,21 (die Benjaminiter taten es nicht) spricht sie Jos 15,63 die Priorität zu. Beide Belege sparen im Hinblick auf 2Sam 5 die vollständige Eroberung Jerusalems für David auf; da die unvollständige Vernichtung der Vorbewohner in Ri 1 aber als Sünde der Israeliten gilt, hat der Juda-freundliche Verfasser Benjamin als Sündenbock eingesetzt.
Aus der Tatsache, dass der Behauptung von Ri 1,30–33, auch Se­bulon, Asser und Naftali hätten die Vorbewohner nicht vernichtet, im Josuabuch nichts entspricht, schließt R., diese Verse hätten den Bearbeitern, die Jos und Ri aneinander anglichen, noch nicht vorgelegen. In 1,28 (Manasse).30 (Sebulon).33 (Naftali).35 (Haus Josef) wird nach einhelliger bisheriger Auslegung gesagt, die Vorbevölkerung, die sich zunächst behaupten konnte, sei später zu Fronarbeitern der Israeliten herabgedrückt worden. Dagegen stellt R. ihre originellste These, den Dreh- und Angelpunkt ihrer gesamten Konzeption, auf: die Wendung in 1,35b די דבכתו bedeute nicht »schwer lasten auf«, sondern, weil ohne Präpositionalobjekt, »schwerfällig werden«, und bezeichne damit das schuldhafte Versagen des Hauses Josef durch allzu große Passivität bei der Landeroberung und infolgedessen sei das Haus Josef, nicht die Amoriter, als das ungenannte Subjekt des folgenden Satzes zu identifizieren: das Haus Josef sei Fronarbeiter der Amoriter geworden und darauf ziele ursprünglich Ri 1. Im Zusammenhang damit erscheint es ihr keines Beweises zu bedürfen, dass die faktische Nicht-Vernichtung der Vorbewohner in Ri 1 den Israeliten nicht nur als Schwäche, sondern als Schuld angerechnet wird. 28.30–33 andererseits erwiesen sich, weil dort die Israeliten Fronherren werden, als Nachtrag. Für weitere literarkritische Details sei auf die Monographie verwiesen. Die Danitennotiz 1,34.35a belässt sie als »erzählerische Vorgabe« für Ri 18 im »Grundbestand« von Ri 1.
Dem »Grundbestand« in der ersten Hälfte des Kapitels mit seinen immer schon konstatierten »schreienden Widersprüchen« (Studer, Kommentar 1835) widmet sie das 3. Kapitel und gelangt zu folgendem Ergebnis, das allein auf Juda zentriert ist und die militärischen Erfolge Judas auf das Bergland beschränkt: 1,1a*.b.2a.4a. 5–6.8b.10a.11.19.21. Das 4. Kapitel analysiert die Betel-Episode 1,22–26, die V. 22 als Beginn des erst in 35b endenden Gegenstücks des Hauses Josef zum Feldzug Judas präsentiert. Aus den Abweichungen gegenüber den ähnlichen Erzählungen in Jos 2 und 6 entnimmt R. in Übereinstimmung mit der von ihr behaupteten negativen Zeichnung des Hauses Josef in 35b, dass auch die Verschonung des Verräters von Lus-Betel als verbotenes Abkommen mit einem Vorbewohner des Landes das Haus Josef gegenüber Juda negativ charakterisieren soll. Da 22a βb.23a* dieser Tendenz widerspricht, wird dieser Textteil ausgeschieden. Die zweite Hälfte des Grundbestandes von Ri 1 umfasst somit 22aα.23a*.24–26.27*.29.34–35 zuzüglich der Benjaminiternotiz V. 21. So kann R. im 5. Kapitel den Grundbestand von Ri 1 als streng aufgebaute Erzählung vorstellen, die im ersten Teil die erfolgreiche Landeroberung Judas (allerdings begrenzt auf das Bergland, da David vorbehalten bleiben soll, dass er die Kontrolle über Jerusalem und die Philisterstädte gewann), im zweiten Teil die schuldhaft scheiternde Landeroberung der Stämme Manasse, Efraim (bzw. des Hauses Josef) und Dan schildert.
Im 6. Kapitel unterteilt sie auch den kurzen Auftritt des JHWH-Boten 2,1–5 in drei Schichten. Für die Grundschicht verbleiben nur die Erinnerung an Ägypten und das Bündnisverbot 2,1a* (ohne Bochim).b·.2a, ohne dass man erführe, wohin der Bote hinaufsteigt, was im Fall der Gehorsamsverweigerung droht und wie das angesprochene Volk reagiert. Diese sehr kurze Grundschicht steht »ganz am Anfang der Literargeschichte des Bündnisverbotes« (118; weitere Entwicklungsstufen des Motivs: Dtn 7,1–3a.6 + Jos 23,12 f. – Ex 34,12aβb.14 – Dtn 7,3b.[4a] – Ex 23,32 f. – Ri 2,1bβ.2b.4b – Ex 34,15 f. – Ri 2,1a*.3.4a.5). In ihr gibt der Bote am Übergang von der Heilsgeschichte unter Josua zur Abfallgeschichte der Richterzeit, nach der Entlassungsnotiz Jos 24,28 »eine erste Antwort darauf, wie der verhängnisvolle regelmäßige Abfall von JHWH in der Richterzeit hätte verhindert werden können« (119). Der Grundbestand von Ri 1 setzt die Grundschicht des Auftritts des JHWH-Boten einschließlich ihrer ersten Bearbeitung voraus, die die Missachtung des Bündnisverbotes bereits in die Zeit der Landnahme zurückverlegt hat, und konkretisiert dies dahingehend, dass dieser Vorwurf das Haus Josef, nicht aber Juda trifft.
Auf der Basis ihrer gesamten Hypothese zur Entstehung von Ri 1 deutet R. im 7. Kapitel den literarisch vielschichtigen Übergang vom Josuabuch zum Richterbuch und versteht das Richterbuch im Sinn der Konzeption von R. G. Kratz als literarisch sekundäre Brü­cke zwischen dem Hexateuch und 1Sam – 2Kön. Im 8. und letzten Kapitel schließlich versucht R. den historischen Ort von Ri 1 zu bestimmen. Sowohl die relative Abfolge der von ihr erschlossenen Textschichten als auch die radikale Distanzierung von den Vorbewohnern und der Gegensatz Juda – Haus Josef führen schon für die Grundschicht von Ri 1 auf das perserzeitliche Juda. Dieser zeitliche Ansatz erklärt auch die Betel-Polemik in Ri 1. Träger der streng judäischen Sicht mit Konzentration auf das Bergland könnte der judäische »Landadel« sein.
R. hat eine originelle und in sich beeindruckend geschlossene Hypothese sowohl zum redaktionsgeschichtlichen Werdegang als auch zu den theologischen und politischen Intentionen von Ri 1 vorgelegt. Sie zeigt großes Vertrauen in die literarkritische Analyse und teilt ihre Textteile bis hinab zu halben Sätzen und einzelnen Wörtern vollständig auf ihre Textschichten auf. Die Auseinandersetzung im Detail kann hier nicht geführt werden. Aber eines ist deutlich: Ihre literarkritischen Entscheidungen zur zweiten Hälfte von Ri 1 und damit die entscheidende Weichenstellung bezüglich der scharfen Opposition zwischen Juda und dem Haus Josef stehen und fallen mit ihrer Deutung der Wendung די דבכתו und der darauf gründenden Umkehrung der Fronverhältnisse des Hauses Juda. Diese Deutung aber hat sie nicht bewiesen.
Sie führt S. 63 acht Belege auf, an denen das Verb דבכ die Präposition לﬠ regiert; dort bedeute es »lasten auf«. An drei Stellen hingegen fehle wie in Ri 1,35 diese Präposition und »könne« דבכ »das ›Schwersein‹ der betroffenen Sache im Sinne ihrer ›Schwerfälligkeit‹« bedeuten, »insbesondere dort, wo √דבכ qal sich auf Körperorgane bezieht« (63: Gen 48,10; Ex 9,7; Jes 59,1; די ist nicht darunter). Von ihren acht Belegen mit Präpositionalobjekt haben nur drei ein Körperteil zum Subjekt: 1Sam 5,11; Ps 32,4; Ijob 23,2 (jeweils די). Einer dieser drei, 1Sam 5,11, hat aber entgegen ihrer Behauptung keineswegs ein Präpositionalobjekt, sondern nur das Ortsdeiktikon »dort« bei sich und bedeutet ebenfalls »lasten auf« (nämlich auf der Stadt, die im Satz zuvor genannt ist). In Wirklichkeit hat R. somit für die Wendung דבכ mit Subjekt די zwei Belege mit Präpositionalobjekt und Bedeutung »lasten auf« (Ps 32,4; Ijob 23,2) sowie einen Beleg ohne Präpositionalobjekt mit derselben Bedeutung (1Sam 5,11). Es spricht somit kein philologischer Grund gegen das bisherige (von LXX durch die Hinzusetzung von »auf dem Amoriter« verdeutlichte) Verständnis, auch in Ri 1,35 bedeute die Wendung ohne Präpositionalobjekt wie in 1Sam 5,11 »lasten auf«. Damit entfällt die Umkehr des Frondienstes in Ri 1,35, daher auch die Bedeutungsdifferenz zu Ri 1,28.30.33, die darauf gegründete Literarkritik in Ri 1 und das wichtigste Argument für ihre Gesamthypothese. Das Rätsel von Ri 1 bleibt ungelöst.