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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

289–291

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Steffen

Titel/Untertitel:

Hegels System der Sittlichkeit.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2007. 280 S. gr.8° = Hegel-Forschungen. Geb. EUR 59,80. ISBN 978-3-05-004296-1.

Rezensent:

Christian Danz

Die von Steffen Schmidt 2004 an der Berliner Humboldt-Universität eingereichte und von Gerd Irrlitz betreute Dissertation wendet sich einem äußerst komplexen und auf den ersten Blick sperrigen Manuskriptfragment Hegels aus dem Jahre 1802/03 zu. Diesem Manuskriptfragment gab Karl Rosenkranz, der als Erster über dieses Manuskript berichtete, in seiner großen Hegel-Biographie den Titel System der Sittlichkeit. Es ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich. Einerseits entstammt es aus einer Zeit, in der Hegel und Schelling in Jena eine enge Arbeitsgemeinschaft pflegten. Zweitens darf dieses Manuskriptfragment als die erste Ausarbeitung von Hegels Geistphilosophie gelten. Drittens bietet es für die Rekonstruktion der werkgeschichtlichen Entwicklung Hegels wichtige Aufschlüsse. Und schließlich schneidet Hegel in diesem Manu­skript Themen an, etwa, um nur das bekannteste zu nennen, Herrschaft und Knechtschaft, die von diesem – im Unterschied zu der im Manuskript praktizierten Potenzenmethode – in seinem späteren Werk nicht nur immer wieder aufgegriffen, sondern auch weitergeführt werden. Das nicht geringe Verdienst der Untersuchung von S., die im Folgenden vorzustellen ist, liegt darin, dass er alle vier eben genannten Hinsichten auf eine geradezu mustergültige Weise bearbeitet hat. In einer klaren und übersichtlichen Form rekonstruiert er Hegels System der Sittlichkeit als dessen erste, noch experimentierende Fassung einer Geistphilosophie im Kontext der Schellingschen Identitätsphilosophie einerseits und der frühen Druckschriften Hegels andererseits. Die Intention des Manu­skripts von Hegel sieht S. darin, im Unterschied zur transzenden­talphilosophischen Sittenlehre von Kant und Fichte und den mo­dernen Theorien des Naturrechts und ihrer Annahme vom Naturzustand als ›Krieg aller gegen alle‹, die Sittlichkeit als eine Ge­stalt des absoluten Geistes zu rekonstruieren, in die das Individuum immer schon hineingeboren wird (vgl. 223). »Obwohl das Manu­skript also eine gesellschaftstheoretische Tendenz aufweist, ging es Hegel selbst primär darum, mit seiner spekulativen Logik auf Basis der Transzendentalphilosophie die Identität von Realität und Idealität, reeller und ideeller Welt zu fassen. Die reale empirische Identität war dagegen nicht Hegels Ziel: Hegel betreibt in seinem Manuskript unzweifelhaft Philosophie, nicht Politik« (267).
Dieses differenzierte Urteil über Anspruch und Einlösung von Hegels Manuskript System der Sittlichkeit wird von S. in den zwei Hauptteilen seiner Studie gut begründet. Der erste Hauptteil, Konzeption des Manuskripts – Entstehungsbedingungen, Rezeptionsgeschichte, Terminologie und Methodik (11–143), bietet einen Über­blick über den Kontext von Hegels Manuskript, informiert über die Forschungsgeschichte, beleuchtet die methodischen und be­grifflichen Voraussetzungen des Hegelschen Textes und versucht anhand von Hegels Druckschriften – Glauben und Wissen, Naturrechtaufsatz – das im System der Sittlichkeit ausgeführte Programm zu bestimmen. Der zweite Hauptteil, überschrieben Interpretation des Manuskripts – Darstellung, Kommentar, Einzelanalysen (144–267), bietet einen förmlichen Kommentar der drei Teile des von Hegel konzipierten Systems der Sittlichkeit. Ein umfassendes Literaturverzeichnis (268–276) sowie ein Personenregister (277–280) beschließen den Band.
Die Bedeutung dieses Hegelschen Manuskriptes für die Ent­wick­lung von Hegels eigener Philosophie zwischen den frühen, sog. theologischen Jugendschriften und den ersten Jenaer System­entwürfen, die in der Phänomenologie des Geistes von 1806 zu einem Abschluss kommen, ist von der Forschung zwar immer wieder betont worden, aber erstaunlicherweise ist es in monographischer Form kaum selbst einer eingehenden Untersuchung unterzogen worden. Als Grund hierfür nennt S. unterschiedliche Interessen der Hegel-Forschung. Sei es, dass sie wie Rosenkranz eher an der späteren Systemgestalt interessiert war und das Manuskript lediglich als Durchgangsstadium bzw. »Embryonalform« (45) des Systems b­e­trachtete oder dass sie entweder an dem Nachweis der Abhängigkeit des Jenaer Hegel von Schelling oder dessen Eigenständigkeit gegenüber seinem jüngeren Tübinger Kommilitonen interessiert war. Gegenüber der Forschungsgeschichte, die S. detailliert von Rosenkranz bis zur jüngsten Gegenwart darstellt (44–83), betont er den »Eigenwert des Systems der Sittlichkeit« (44). »Meine Arbeit wird… zeigen, daß das System der Sittlichkeit kein nur nebenbei ent­standenes Zufallsprodukt ist, auch kein bloß aus äußerem Anlaß initiiertes oder gar erzwungenes Werk, sondern als konsequentes Resultat vorangegangener Studien Hegels und Ausdruck seines fortwährenden Interesses an dem Thema der Sittlichkeit zu verstehen ist.« (43) Auf Grund des beschränkten Raums, der für diese Besprechung zur Verfügung steht, kann im Folgenden nicht näher auf die von S. vorgenommene differenzierte Beschreibung des Verhältnisses von Schelling und Hegel sowie die Beurteilung der von Schelling übernommenen Potenzenmethode eingegangen werden (84–121). Dem Urteil von S., dass Hegel den Potenzbegriff von Schelling »nicht einfach unverändert« übernimmt, sondern ihn für sein System »modifiziert«, ist in jedem Falle zuzustimmen.
Der zweite Hauptteil der Untersuchung bietet eine genaue Re­konstruktion der gedanklichen Entwicklung sowie des inneren Zusammenhangs der drei Teile des Systems der Sittlichkeit. Der erste Systemteil von Hegels System der Sittlichkeit, der die Überschrift Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniß trägt, widmet sich der natürlichen Sittlichkeit und dem Aufbau von sittlichen Strukturen (151–197). Von Hegel wird dieser Aufbau der sittlichen Verhältnisse durch Potenzen strukturiert und er nimmt seinen Ausgang von elementaren Bedürfnissen und endet bei der Familie und dem Werkzeug. Auf dieser Stufe der natürlichen Sittlichkeit wird das Sittliche vom Menschen »zunächst noch gar nicht als solches gewusst, es bleibt entweder Inneres … oder Äußeres …« (184). Diese Beschränkung deutet die merkwürdige Überschrift des ersten Teils des Systems, die ›absolute Sittlichkeit nach dem Verhältniß‹, an. Der zweite Systemteil, der in der Forschung unterschiedlich bewertet wurde, bietet unter der Überschrift Das Negative, oder die Freyheit, oder das Verbrechen auf verschiedenen Stufen die mit der menschlichen Selbstbestimmung verbundenen Ant­agonismen in dem ›Kampf um Anerkennung‹ (198–223). S. vermag im differenzierten Anschluss an die Untersuchungen von Karl-Heinz Ilting und Axel Honneth zu zeigen, dass der zweite Systemteil eine notwendige Stufe auf dem Weg zur absoluten Sittlichkeit darstellt. Die gedankliche Rekonstruktion des absoluten Geistes in Form der Sittlichkeit kommt im dritten Systemteil zum Ziel (224–267). Minutiös rekonstruiert S. den Gang des Hegelschen Textes über den Volksbegriff, die Stände, die Regierung etc. »Im System der Sittlichkeit wird vom natürlichen Subjekt ausgegangen und dann thematisiert, wie sich die Kreise kontinuierlich ausdehnen, wie sich das Subjekt aus der bloßen Naturgebundenheit erhebt und in ganz neue, nichtanimalische, sondern spezifisch menschliche Be­ziehungen eintritt, daß es sich sodann als selbsthandelndes Wesen in einer Gemeinschaft begreift, in Anerkennungskämpfen bewährt und schließlich (auf je unterschiedlichem Niveau) in Einheit mit dem Volk oder Staat weiß, und zwar durch ›Intelligenz‹ (wie Hegel sagt und womit er den Unterschied zur Naturstufe kennzeichnet).« (258)
S. hat eine grundsolide, gut lesbare Studie zu dem jungen Hegel vorgelegt, deren Verdienst darin gesehen werden darf, dass er die Bedeutung des Systems der Sittlichkeit als der ersten Fassung von Hegels Geistphilosophie in den differenzierten Debattenlagen um die Gestalt einer ersten Philosophie um 1800 herausgearbeitet hat.