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Ausgabe:

Februar/2008

Spalte:

219–221

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Graulich, Markus

Titel/Untertitel:

Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts. Die Grundlegung des Rechts bei Gottlieb Söhngen (1892–1971) und die Konzepte der neueren Kirchenrechtswissenschaft.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2006. 438 S. gr.8° = Kirchen- und Staatskirchenrecht, 6. Kart. EUR 44,90. ISBN 978-3-506-72924-8.

Rezensent:

Heribert Hallermann

In seiner aus dogmatischer Perspektive geführten Auseinandersetzung mit einigen aktuellen kirchenrechtlichen Veröffentlichungen fragt Peter Hünermann in seinem Aufsatz »Ist der CIC revisionsbedürftig?« (ThG 50 [2007], 15–30) nach der theologischen Begründung des geltenden Kirchenrechts der lateinischen Kirche. Ausgehend von der selbstverständlich akzeptierten Regel, dass im staatlichen Recht jedes einzelne Gesetz den Rahmenvorgaben und Intentionen des Verfassungsrechts entsprechen muss, konstatiert Hünermann, dass jede »rechtliche Körperschaft auf einen Grundkonsens angewiesen ist, ohne den die im Einzelnen immer höchst begrenzten rechtlichen Regelungen … nie dem Rechtsfrieden … der betreffenden Körperschaft dienen könnten. … Ohne diesen Konsens verfällt … jede Rechtsgemeinschaft. Die einzelnen Gesetze verlieren ihre Bedeutung wie ihre regulierende Kraft.« Diese Erkenntnis trifft auch auf die Kirche zu, die als eine realitas complexa immer zugleich Rechtsgemeinschaft ist, und so schließt sich den skizzierten grundlegenden Ausführungen die entscheidende Frage bruchlos an: »Welches ist der vorausgesetzte Konsens der Gesetze des CIC?«
In dem zu besprechenden Werk beansprucht Markus Graulich nicht, eine umfassende Antwort auf diese aktuelle Anfrage an die Kanonistik zu geben; er will vielmehr einen konstruktiven Beitrag zur Diskussion um die theologische Grundlegung des Kirchenrechts leisten. Als Ausgangspunkt für dieses anspruchsvolle Unternehmen wählt er den von dem Philosophen und Fundamental­theo­logen Gottlieb Söhngen (1892–1971) erarbeiteten Ansatz einer theologischen Begründung des Rechts und legt seinem Werk die These zu Grunde: »Der von Gottlieb Söhngen vorgelegte Entwurf der Begründung des Rechts der Kirche kann dazu beitragen, die Gegensätze zu überwinden, welche heute zwischen den verschiedenen Konzepten der Begründung des Kirchenrechts bestehen, und zu­gleich neue Horizonte öffnen, die es der Kirchenrechtswissenschaft ermöglichen, den Dialog mit den anderen theologischen Disziplinen sowie mit der Rechtsphilosophie und der Rechtswissenschaft zu vertiefen.« (12 f.).
Dementsprechend gliedert sich die vorliegende Arbeit in drei Teile. Im ersten Teil (15–151) werden Söhngens Konzepte der Rechtsbegründung und des Aufbaus des Kirchenrechts dargelegt, die zugleich den Schlüssel für das Verständnis der in der heutigen Kirchenrechtswissenschaft vertretenen Begründungsmodelle des Kirchenrechts darstellen. In seinen grundlegenden philosophischen Überlegungen geht es Söhngen um die Wahrheit des Rechts, das heißt um die Frage der Entsprechung des Rechts zum Wesen der Dinge, um die Gerechtigkeit, die konstitutiv zum Wesen des Rechts gehört, und schließlich um die Sachlichkeit des Rechts, die im Zusammenhang mit der Freiheit und der Gerechtigkeit die Wahrheit sucht und das Recht der Person schützt und ermöglicht. Im Hinblick auf den Aufbau des Kirchenrechts unterscheidet Söhngen zunächst den juristischen Be­reich, der in formaler Hinsicht das Kirchenrecht als juristisch richtiges, wenn auch eigengeartetes Recht bestimmt, das sich der juristischen Sprache bedienen muss und der Ordnung der Kirche dient, indem es die Beziehungen in der Kirche sowie die Rechte und Pflichten der verschiedenen Glieder des Volkes Gottes gerecht zu regeln versucht. Mit dem sog. kanonistischen Bereich nimmt Söhngen die materiale Grundstruktur des Kirchenrechts in den Blick: Das Kirchenrecht hat es mit der Kirche im dogmatischen Sinn, also in ihrem theologisch formulierten Selbstverständnis zu tun; insofern legt es seine materialen Inhalte nicht selbst fest, sondern nimmt sie von der Dogmatik entgegen. Das Kirchenrecht muss folglich von den Konstitutivelementen der Kirche, das heißt von Wort und Sakrament ausgehen. Den dritten Bereich des Kirchenrechts bezeichnet Söhngen als metakanonischen Bereich: Das Kirchenrecht weist über sich selbst hinaus auf das Heil hin, das es selbst nicht schaffen kann, dem es aber zu dienen hat.
Im zweiten Teil (153–324) stellt G. heutige Versuche einer Be­gründung des Kirchenrechts vor. Diese unterteilt er in Begründungen auf theologischer Basis einerseits und solche auf juristischer Basis andererseits. Bereits dadurch sowie durch die Darstellung der mehr als zehn Hauptrichtungen der Rechtsbegründung macht er ersichtlich, dass man heute von dem Konzept der Begründung des Kirchenrechts keinesfalls sprechen kann. Bei aller erforderlichen Differenzierung im Einzelnen neigen theologische Begründungsversuche dazu, das Kirchenrecht als gegenüber dem staatlichen Recht »besseres« oder »heiliges« Recht zu überhöhen und es dadurch seines Charakters als eines wirklichen, juristisch richtigen Rechtes zu entkleiden. Vorwiegend juristisch motivierte Begründungsversuche hingegen betonen teilweise die Flexibilität des Kirchenrechts so sehr, dass es ebenfalls nicht als richtiges, sachliches und auf Rechtssicherheit in der Kirche ausgerichtetes Recht er­scheint; zudem erscheint in diesen Konzepten die Kirche im Gegensatz zu ihrem theologisch begründeten Selbstverständnis überwiegend als soziologische Größe und nicht mehr als eine realitas complexa.
Am Beginn des dritten Teils (325–411) ruft G. die zehn von der Bischofssynode 1967 formulierten Leitlinien in Erinnerung, die der Reform des Codex Iuris Canonici zu Grunde liegen: Sie greifen die Ergebnisse des Konzils insbesondere im Hinblick auf die Ekklesiologie auf und antworten ebenso auf die Einwände gegen das Kirchenrecht, die im Antijuridismus der Konzils- und Nachkonzilszeit verbreitet waren. Insgesamt sind diese Prinzipien der Codexreform Ausdruck einer gewandelten Ekklesiologie. Entsprechend den drei Bereichen, die Söhngen im Aufbau des Kirchenrechts un­terscheidet, werden die Ergebnisse der Studie zusammengetragen: Kirchenrecht ist demnach in formaler Hinsicht zwar analoges, aber doch wirkliches, juristisch richtiges und sachliches Recht, das allerdings im Unterschied zum staatlichen Recht nicht auf einem Ge­sellschaftsvertrag beruht, sondern seine Vorgaben aus der Of­fen­barung übernimmt. Das Kirchenrecht muss den göttlichen Willen für die Gemeinschaft des Volkes Gottes beachten und verweist damit vom juristischen auf den kanonistischen Bereich, der die materiale Grundstruktur des Kirchenrechts betrifft: Es muss dem entsprechen, was die Kirche durch göttliche Stiftung ist, nämlich die communio des Volkes Gottes. Insofern kommt in diesem Be­reich das Verfassungsrecht der Kirche ebenso in den Blick wie die verkündigungsrechtlichen und sakramentenrechtlichen Aspekte der Rechtsordnung des Volkes Gottes.
Dabei werden die Vorgaben von der Theologie erhoben und vom Kirchenrecht umgesetzt, so dass Kirchenrecht und Theologie in der gemeinsamen Ausrichtung auf die Offenbarung einander zugeordnet sind, ohne jedoch identisch zu werden. Beide bleiben ausgerichtet auf das von Gott zugesagte Heil der Menschen und stehen in dessen Dienst. So weist das Kirchenrecht stets über sich selbst hinaus und steht im Dienst der salus animarum und des bonum commune, die zu hermeneutischen Prinzipien der kirchlichen Rechtsordnung im Sinne konstitutiver Prinzipien werden, den pastoralen Charakter des Kirchenrechts begründen und dessen Flexibilität in der Anwendung einen Rahmen und eine verbindliche Orientierung geben.
Die Arbeit von G. wurde 2004 in Mainz als Habilitationsschrift angenommen. Sie stellt eine gelungene Einladung zum Dialog über die theologische Grundlegung des Kirchenrechts dar und zugleich einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer dem theologischen Selbstverständnis der Kirche als communio entsprechenden Rechtskultur in der Kirche. »Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts« verdient sie die Aufmerksamkeit sowohl der Theologie als auch besonders der Kirchenrechtswissenschaft.