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Ausgabe:

Januar/2008

Spalte:

81–83

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Wilhelm, Georg

Titel/Untertitel:

Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 576 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 39. Geb. EUR 89,00. ISBN 3-525-55739-6.

Rezensent:

Norbert Friedrich

In der öffentlichen Debatte spielt der Vergleich der beiden deutschen Diktaturen immer wieder eine gewichtige Rolle, sei es in apologetischer Absicht oder auch zur Verstärkung und Untermauerung der eigenen Position. Dementsprechend hat sich in den letzten Jahren die Forschung zum Diktaturvergleich in der Ge­schichts­wissenschaft erheblich intensiviert, wobei die Kirchliche Zeitgeschichte bisher die Fragestellung kaum aufgegriffen hat. Insofern kommt der Leipziger historischen Dissertation, die innerhalb des Forschungsprojektes »Sachsen unter totalitärer Herrschaft« zwischen 1933 und 1961 entstanden ist, auch eine methodische Bedeutung zu, die die Stärken und Schwächen der vergleichenden Perspektive für die Kirchengeschichte aufzeigen kann. Dabei ist zu beachten, dass die hier vorzustellende Studie eine »lokal-regional angelegte[n] Untersuchung« (14) ist und die Leipziger Situation sowohl für die Zeit des Nationalsozialismus als auch für die DDR-Geschichte zu beachten ist. W. hat zudem keine theologie- oder kirchengeschichtliche Arbeit vorgelegt, sondern einen politikgeschichtlichen Ansatz zu Grunde gelegt, bei dem gerade die Handlungsweisen und die Spielräume der »handlungsleitenden Personen in den Mittelpunkt gestellt« (14) werden. Zugleich grenzt sich W. gegenüber dem in der letzten Zeit auch diskutierten Mi­lieuansatz, wie ihn etwa Manfred Gailus für Berlin angewandt hat, ab, da dieser keine ausreichende Validität habe. So stellt W. auch die Amtskirche und die kirchlichen Funktionsträger ins Zentrum seiner Untersuchung, weitere kirchliche Einrichtungen (z. B. theologische Fakultät der Universität, Gustav-Adolf-Verein oder die Innere Mission) werden leider nicht dezidiert behandelt.
Die Studie ist in drei Teile unterteilt, wobei die beiden darstellenden Hauptkapitel (I. »Drittes Reich« und II. SBZ/DDR) von unterschiedlichem Umfang sind, das DDR-Kapitel ist erheblich umfangreicher und nimmt beinahe die Hälfte der gesamten Darstellung ein. Innerhalb des ersten Teils rekonstruiert W. zudem im Rahmen der »Voraussetzungen und Rahmenbedingungen des Kirchenstreits« (31–59) die politische Geschichte der Stadt Leipzig in der Weimarer Republik sowie die kirchenpolitische Lage in Leipzig und der Sächsischen Landeskirche. Dabei bestätigt er für die Mehrheit der Leipziger Pfarrerschaft die schon aus älteren Forschungen bekannte Offenheit gegenüber dem Nationalsozialismus. Es zeichneten sich innerhalb der Pfarrerschaft die Konfliktlinien ab, die sich nach 1933 massiv auswirken sollten. Als sächsische Besonderheit hebt W. dabei besonders die »weitgehende Interessenidentität von deutschchristlichem Kirchenregiment und sächsischer Landesregierung in dem Kampf gegen die innerkirchliche Opposition« (200) hervor, die zu durchaus heftigen Konflikten führte und die erst nach der Schwächung der Deutschen Christen nachließ. W. weist auf den Spielraum und die »Machtmittel« hin, die »Staat und Partei« den kirchenpolitischen Gruppen im »Kirchenkampf« gegeben haben (200), womit die außerkirchlichen Faktoren des innerkirchlichen Konfliktes in den Mittelpunkt gestellt werden. Insgesamt zieht W. für die NS-Kirchenpolitik ein klares Fazit: Es ist dem NS-Regime trotz der Politik »zur Entkonfessionalisierung der Ge­sellschaft … der Einbruch in die volkskirchlichen Strukturen der evangelischen Kirche« (202) nicht gelungen, 1946 gehörten 83 % der Sachsen der evangelischen Kirche an. Dies wird in der Arbeit u. a. auf die insgesamt als »uneinheitlich und widersprüchlich« (463) charakterisierte NS-Kirchenpolitik zurückgeführt.
Mit dem Erfahrungswissen der internen Auseinandersetzungen und den staatlichen Repressionserfahrungen ging die Leipziger Pfarrerschaft in die Nachkriegszeit. Anders als 1933 lehnte nun die Mehrheit der Pfarrer und der Kirchenbehörden den entstehenden sozialistischen Staat ab, nur einzelne sog. »fortschrittliche Pfarrer« waren schon früh bereit, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren, oder aber sie nahmen die Ideen des Sozialismus positiv auf. Auch wenn die sächsische Kirchenleitung zunächst einen offenen und konstruktiven Kurs gegenüber den staatlichen Behörden förderte, kam es doch nach 1945 schnell zu einer sich in Etappen verschärfenden Konfliktlage bis hin zum sog. »offenen Kirchenkampf« (Kapitel II.4), in dessen Mittelpunkt die »Junge Ge­meinde« sowie die Durchsetzung der Jugendweihe standen. Anders als in der NS-Zeit, in der die Konflikte in Leipzig bedingt durch die starke Position der »Mitte« weniger scharf als in anderen Regionen des Reiches verliefen, verliefen die Auseinandersetzungen in der DDR »sehr konfrontativ«, man kann unter dem 1. Sekretär des SED Bezirksleitung, Paul Fröhlich, eine »aggressive Vorgehensweise« (464) konstatieren.
Nachdem W. die Konflikte ausführlich und sehr detailreich und quellennah beschrieben hat, wobei er immer wieder besonders auf das staatliche Verhalten und die möglichen Strategieentscheidungen zielt sowie die repressiven Maßnahmen von Gestapo und Staatssicherheit in den Blick nimmt, werden die Ergebnisse in einem dritten Teil unter fünf Leitfragen verglichen. Gefragt wird nach den »Zäsuren«, nach »Strukturen und Methodik der Kirchenpolitik«, nach dem Verhältnis zum »Repressionsapparat«, nach den »Pfarrern zwischen Anpassung und Widerstand« sowie nach der spezifischen »lokalen Entwicklung«. Aus der Vielzahl der Ergebnisse sollen nur zwei Aspekte herausgegriffen werden. Gegenüber neueren Ansätzen favorisiert W. unter lokalhistorischer Perspektive das von Joachim Mehlhausen mit Blick auf den Nationalsozialismus entwickelte Stufenmodell für widerständiges Verhalten (von Kooperation bis Protest und Fundamentalopposition und Widerstand), da damit gerade die Komplexität der lokalen Situation erfasst werden kann. Diese quellennahe Anwendung vermag zu überzeugen.
Im Verhältnis zum Staat bzw. »Repressionsapparat« sieht W. ein »zentrales Vergleichskriterium« in dem Streben nach und der »Be­wahrung der kirchlichen Autonomie« (473) worunter er primär die innere Freiheit der Kirche (Verfassung, Verwaltung, Bekenntnis) versteht. Hier hat es in der NS-Zeit einen wichtigen Lernprozess gegeben, der viele Handlungen bestimmte. Dies betrifft etwa die Bekennende Kirche, die beim »Neuaufbau eine normative Kraft« (476) be­< /span>sessen habe. Trotz des Ziels, die Kirche in der Öffentlichkeit zu verankern und volkskirchliche Strukturen zu erhalten, war an dieser Stelle langfristig die Politik der SED erfolgreich, die das kirchliche Vereinswesen verbot. Und dennoch sieht W. hier das wichtigste langfristige Ergebnis, gerade im Hinblick auf die Ereignisse 1989/90. Für ihn legte die evangelische Kirche nicht nur in Leipzig »Wert auf ihre Autonomie und ihren Öffentlichkeitsauftrag und konnte somit zum Fürsprecher gesamtgesellschaftlicher Anliegen werden« (494).
W.s wichtige lokalhistorische Studie, die manchmal in der Ge­fahr steht, sich in den Einzelheiten, in Namen und Daten, zu verlieren, kann durch den Diktaturenvergleich die Mechanismen der Herrschaftspraxis sowie die Reaktionen der Leipziger Pfarrer und der Kirche darauf in einem historischen Längsschnitt überzeugend darstellen. Auch wenn die Konzentration auf die Gruppe der Pfarrer und damit der weitgehende Verzicht auf sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen als eine Begrenzung wirkt, die weitere Einsichten (etwa über die Analyse des Leipziger evangelischen Vereinswesens und seiner Träger) verhindert, ist die Arbeit insgesamt weit über das Leipziger Beispiel hinaus für die weitere Forschung fruchtbar.