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Ausgabe:

November/1997

Spalte:

1010 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Avemarie, Friedrich

Titel/Untertitel:

Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. XIV, 664 S. gr.8° = Texte und Studien zum Antiken Judentum, 55. Lw. DM 218,­. ISBN 3-16-146532-6.

Rezensent:

Roland Bergmeier

Eine Theologie der Tora in frührabbinischer Perspektive ist hier anzuzeigen, die erste ihrer Art, ein Meisterstück ­ vom Autor sorgfältig redigierte Druckfassung seiner Tübinger Dissertation von 1994. Im Unterschied zur Forschung der letzten hundert Jahre (von F. Weber bis E. P. Sanders und J. Neusner, 11­49: "Rabbinische Soteriologie in der Forschung. Ein Überblick") analysiert A. die Überlieferung des antiken rabbinischen Judentums nicht von einer scheinbar erschließenden Gesamtkonzeption her, so daß sich vor dem Auge des Lesers ein systematisches Ganzes frührabbinischer Theologie entwickeln würde, sondern läßt von Anfang an und immer wieder neu deutlich werden, "in welchem Maße das rabbinische Denken in der Lage war, verschiedene, ja sogar einander widersprechende Vorstellungen gleichzeitig und nebeneinander gelten zu lassenŠ Mit einer Systematisierung haggadischer Aussagen würde die ’Theologie’ der frühen Rabbinen verfehlt" (448 f.). Die Vielfalt der Aspekte um Israel, Tora und Leben wird entlang an 185 analysierten Textstücken (s. das Verzeichnis XI-XII) aus Mischna, Tosefta, Talmud Yerushalmi, tannaitischen und frühamoräischen Midraschim sowie der palästinischen Targumtradition ­ jeweils textkritisch, überlieferungs- und kompositionsgeschichtlich beleuchtet und durch einfühlsame Übersetzung und Auslegung erschlossen - dargestellt, thematisch zu Abschnitten geordnet und zu folgenden Kapiteln zusammengefaßt: "Die Existenz des Menschen und die Tora" (50-161), "Gehorsam gegen Gott" (162-261), "Die Eigenwertigkeit der Tora" (262-290), "Gehorsam und Vergeltung" (291-375), "Leben durch die Tora" (376-445), "Israel, das Volk der Tora" (446-574). Weniger überzeugend finde ich das Vorgehen, den einzelnen Abschnitten Einführungen voranzustellen, die die Ergebnisse der jeweils nachfolgenden Analysen vorwegnehmend zusammenfassen und thematisch auswerten.

Aus der Fülle dessen, was thematisch erhoben wurde, sei hier mitgeteilt: Gott hat Israel, seinem vor allen Nationen geliebten Volk, seine Tora gegeben, die für Israel Gebot und Gabe zum Leben ist, zum Leben dieser Welt und zum Leben der kommenden Welt. Israel hat wie Gottes Herrschaft so Gottes Tora auf sich genommen und sich damit verpflichtet, sie zu bewahren, indem es sie lernt, lehrt und tut. Grundsätzlich gilt, daß Mensch und Gebote so beschaffen sind, daß Gebotserfüllung möglich ist. Im übrigen rückt die unsystematisch wirkende Vielfalt der Anschauungen assoziativ zusammen, was ein moderner Forscher gerne alternativ auseinandernehmen würde: Gebotserfüllung um der Belohnung willen, Tun der Tora um Gottes oder um ihrer selbst willen. "Unter dem Aspekt der Motivation des Gehorsams dürfen die Vergeltungsfolgen keine Rolle spielen, unter dem Aspekt des Wertes und der Anerkennung menschlichen Handelns müssen sie es. Diese Aspekthaftigkeit scheint für das haggadische Denken konstitutiv" (578 f.). Und keineswegs hat die Gebotserfüllung nur Bedeutung für das ewige Heil: Die Tora gewährt dem Menschen das Leben gerade auch dieser Welt, denn es zeigt sich, "daß eine Reduzierung der Tora auf eine im engeren Sinne soteriologische Funktion ­ in Entsprechung zu den in erster Linie eschatologisch bestimmten Heilsvorstellungen des Neuen Testaments ­ dem rabbinischen Denken nicht gerecht werden kann" (63). So schafft die Tora Gutes im sozialen, ökonomischen und rechtlichen Bereich, sie stiftet Freude, erfüllt mit Sinn und führt zu unmittelbar erfahrener Daseinssteigerung. Die innere Nähe zur hebräischen Bibel ist hier deutlich erkennbar, ist größer auch, als A. herausgestellt hat. Andererseits ist rabbinisches Denken aber so uneschatologisch auch wieder nicht, daß gelegentliche (141 mit Anm. 9; 393-395) Affinität zur Neuschöpfungsterminologie so ganz hätte ausgeblendet bleiben dürfen (vgl. E. Sjöberg, Wiedergeburt und Neuschöpfung im palästinischen Judentum, StTh 4, 1951, 44-85).

Die breite Untersuchung der Texte palästinischer Überlieferung aus dem Zeitraum, "der von den tannaitischen Anfängen bis zum fünften Jahrhundert reicht" (4), befaßt sich mit der exegetischen und theologischen Arbeit des rabbinischen Judentums, das die pluriforme Vielfalt des Judentums vor dem Jahre 70 n. Chr. hinter sich gelassen und zu seiner Gestalt gefunden hat, als die Schriften des neutestamentlichen Kanons schon fixiert waren. Vergleiche in toto können mithin nur typologischer, nicht religionsgeschichtlicher Art sein. Dazu hätten einige Bemerkungen gutgetan, bevor der Ausblick "Christus, Gesetz und Leben im Neuen Testament" (584-596) unternommen wurde. Die größere Nähe der Verkündigung des irdischen Jesus zum Toraverständnis der Rabbinen herauszustellen, hat der Vf. nicht unternommen und sich auf die Bezugnahmen auf Paulus, Matthäus und Johannes beschränkt. Hier wird noch viel zu tun sein, aber A. hat für präzise Wahrnehmung eine ausgezeichnete Grundlage geschaffen, die ernstzunehmende Forschung nicht wird übersehen dürfen.

Ohne auf Joh 1,17 eingegangen zu sein, beschließt A. seine große Untersuchung mit dem Hinweis auf den fundamentalen Unterschied, der den jüdischen vom christlichen Glauben trenne: "Der in Israel fleischgewordene Logos und das in Israels Lehrhäusern weitergereichte Gotteswort ­ beide mit dem Anspruch, dem Menschen das Leben zu bringen ­ sind, nach dem Gang der Geschichte, zweierlei" (596). Der unbestreitbare Unterschied ist aber ­ das fand ich bei der Lektüre des hier angezeigten Buchs bestätigt ­ nicht vom Toraverständnis als solchem her fundamental, sondern von der Sicht der Situation des Menschen vor Gott und vom Verständnis dessen her, was Leben heißt. Und das hatte A. an früherer Stelle selbst glänzend formuliert: Ein dem NT analoger Begriff von Soteriologie werde dem rabbinischen Toraverständnis nicht gerecht. "Denn die Tora hat hier nicht den Zweck, den Menschen aus der Gottesferne dieses sündigen Lebens oder dieser verlorenen Welt in ein endzeitlich-heilvolles Verhältnis zu Gott einzuführen; sie zeigt vielmehr, wie eine intakte Gottesbeziehung im Rahmen der weitergehenden irdischen Geschichte gestaltet werden kann, wie vertrauensvolle Nähe zwischen Mensch und Gott in dieser Welt möglich istŠ" Kurzum, da geht es um menschliches, genauer um Israels Dasein vor Gott hier auf Erden (90). Eindrücklich formuliert ein amoräischer Midrasch (PesK 19,4): "Wenn das Ende kommen wird, spricht der Heilige, gepriesen sei er, zu Israel: Ich wundere mich, wie ihr all diese Jahre auf mich gewartet habt! ­ Und die Israeliten sprechen vor dem Heiligen, gepriesen sei er: Herrscher der Welten, wäre nicht das Buch der Tora, das du uns geschrieben hast, hätten uns die Völker der Welt längst dir abtrünnig gemacht" (552).